Mord und Moral

als

Phänomen für Kompensation

in der

bipolaren semantischen Struktur

des

Nibelungenliedes

  Inhalt
   
1 Einleitung
   
2 Das Oppositionenmodell
2.1 Weltmodell A (Anfangssituation)
2.1.1 Normen und Werte
2.1.2 Personenkonstellationen
2.2 Weltmodell B (Endsituation)
2.2.1 Normen und Werte
2.2.2 Personenkonstellationen
2.3 Hypothesen
   
3 Das Aktantenmodell
3.1 Weltmodell A
3.2 Weltmodell B
   
4 Zusammenfassung
1 Einleitung [nach oben]

Gewalt ist in der fiktionalen Welt des Nibelungenliedes konstitutiv und wird sowohl im Normen- und Wertesystem des Personals als auch in kriminellen Aktionen des Ensembles sichtbar. Hass und Neid enden oft wie Freundschaft und Treue in Blutvergießen. Welches literarische Muster steuert kontroverse Strömungen und führt die Neutralisation der Gegensätze als stimmigen Vorgang durch?

Zwecks Klärung dieser Fragestellung wird zunächst das Inventar aller handlungserzeugenden Oppositionen vorgeführt. Betrachtet wird vor allem die Anfangs- und Endsituation der Geschichte. Der Anfang wird als das vor Handlungsbeginn gesetzte Weltmodell A, das Ende als das durch die Handlung modifizierte Weltmodell B rekonstruiert, um Handlung als Bewegung innerhalb des bipolaren Spannungsfeldes auffassbar zu machen.

Dann werden beide Weltmodelle A und B unter dem Aspekt a) der Normen- und Werte und b) der Personenkonstellationen untersucht. Mit den Beobachtungen, die in beiden Welten gemacht wurden, sollen dann Hypothesen untermauert werden, die sich aus der Analyse erst ergeben konnten.

Danach wird das Aktantenmodell von A. J. Greimas angewendet, das ebenso wie das Oppostionenmodell handlungsgenerierende Strukturen erarbeitet und Handlung nicht in ihrer syntagmatischen, aber paradigmatischen Ordnung beschreibt. Es erklärt Personen(konstellationen) nach Gesichtspunkten ihrer Funktion in der Handlung, indem es darlegt, welche Person(en) als handlungstreibend hervortritt, was diese Person begehrt und wer bei ihrem Vorhaben hilfreich oder hinderlich ist. Zudem betrachtet das Aktantenmodell Personen als Teilnehmer der Kommunikation.

In der Zusammenfassung der Strukturanalyse soll das Augenmerk auf Vorgänge gelenkt werden, um Personenbewegungen als eigendynamisch und strukturbestimmt zu plausibilisieren.

2 Das Oppositionenmodell
2.1 Weltmodell A (Anfangssituation)
2.1.1 Normen und Werte [nach oben]

Auf das augenfälligste Merkmal für Dualität in Textwelt A, wo Mechanismen der Haupthandlung noch nicht im Gange sind, deutet die Gestaltung von Mangel und Begehren. Der Großteil der zu Beginn des Textes vorgestellten Personen wird von der Instanz des Erzählers mit einem Defizit belegt:

"Waz saget ir mir von manne, vil liebiu muoter mîn?
âne recken minne sô wil ich immer sîn. [...]"
(15/1 u. 2)|1| [zum Zurückgehen bitte Browserbutton verwenden]

Als ein "vil edel magedîn" und "scoene wîp" (2/1 u. 3) sollte Kriemhilt sich nach Auffassung der Mutter einem Mann zuwenden:

"[...] soltu immer herzenlîche zer werlde werden vrô,
daz gesciht von mannes minne. [...]"
(16/2 u. 3)

Der Text thematisiert in einer Vorausdeutung die Unumgänglichkeit einer ehelichen Verbindung Kriemhilts mit einem Mann:

[...] sît wart si mit êren eins vil küenen recken wîp. (18/4)

Die "minne" als Wert ist demnach verknüpft mit der Ehe als Norm.

Die Opposition Liebe|2| vs. Leid konstituiert sich, als Kriemhilt die "liebe" als Ursache für leidvolle Erfahrungen darstellt:

"[...] ez ist ... worden scîn,
wie liebe mit leide ... lônen kan. [...]"
(17/2 u. 3)

Leid durch Liebe stünde im Gegensatz zu der Lebensfreude, die im sozialen Umfeld Kriemhilts herrscht:

Von des hoves krefte und von ir wîten kraft,
von ir vil hôhen werdekeit und von ir ritterscaft,
der die herren pflâgen mit vröuden al ir leben,
des enkunde iu ze wâre niemen gar ein ende geben.
(12/1 - 4)

Den Personen in "Wormez bî dem Rîne" (6/1) in "Burgonden" (2/1), die Kriemhilt in ihre Obhut genommen haben ("Ir pflâgen drîe künege ... Gunther unde Gêrnôt ... und Gîselher ... diu frouwe was ir swester" [4/1 - 4]), fehlt nach den Maßstäben der Lebensqualität scheinbar nichts.

Räumlich deutlich abgegrenzt von diesen Leuten existiert in Textwelt A ein weiterer Personenkreis mit Gesellschaftsordnung:

... in Niderlanden [...]
ze Santen [...]

Von der hôhgezîte man mohte wunder sagen.
Sigmunt unde Siglint die mohten wol bejagen
mit guote michel êre; des teilte vil ir hant. [...]

(20/1 u. 4, 29/1 - 3)

In Niderlant ist materieller Wohlstand als Lebensqualität eine Voraussetzung für allgemeine Anerkennung und Bestätigung ("mit guote michel êre"). Soziale Beziehungen werden durch materielle Gaben gefestigt ("des teilte vil ir hant").

Auch in Burgonden werden durch das Verteilen von Gaben Kontakte geknüpft:

Manege scilde volle man dar scatzes truoc.
er teiltes âne wâge den vriwenden sîn genuoc,
bî fünf hundert marken, und etslîchen baz.
Gêrnôt der vil küene der riet Gunthere daz.
(317/1 - 4)

Reichtum wird zur Konsolidierung von Freundschaft demnach in beiden Teilwelten des Paradigmas A eingesetzt.

2.1.2 Personenkonstellationen [nach oben]

Die topologische Trennung der Kollektive bildet das sichtbarste der handlungserzeugenden Module im erzähltechnischen Programm. Das Zusammentreffen von Personen unterschiedlicher Herkunft äußert sich als Konfrontation:

"Mich wundert dirre mære", sprach der künec zehant,
"von wannen ir, edel Sîfrit, sît komen in ditze lant [...]"
dô sprach der gast zem künege: "daz sol iuch unverdaget sîn.

[...]

Nu ir sît sô küene, als mir ist geseit,
sone ruoch ich, ist daz iemen liep oder leit:
ich wil an iu ertwingen, swaz ir muget hân:
lant unde bürge, daz sol mir werden undertân."

(106/1 u. 2 u. 4, 110/1 - 4)

Die Strategien zur Beseitigung von Mangel sind in beiden Kollektiven unterschiedlich konzeptioniert: Während Sîfrit, "der helt von Niderlant" (90/3), die Sehnsucht nach Partnerschaft ("dô sprach der küene Sîfrit: 'sô wil ich Kriemhilden nemen ...'" [48/4]) in der Annexion zu befriedigen sucht, unterdrückt Kriemhilt das, was die Lebensqualität steigern soll ("Kriemhilt in ir muote sich minne gar bewac" [18/1]).

Verzicht als Verhaltensoption tritt in der Teilwelt Burgonden erneut hervor, als nicht Kampf die Antwort auf Sîfrits Provokationen sein soll:

"Ir sult uns wesen willekomen", sô sprach daz Uoten kint,
"mit iuwern hergesellen, die mit iu komen sint.
wir sulen iu gerne dienen, ich und die mâge mîn."

dô hiez man den gesten scenken den Guntheres wîn.
Dô sprach der wirt des landes: "allez daz wir hân,
geruochet irs nâch êren, daz sî iu undertân,
und sî mit iu geteilet lîp unde guot." [...]

(126/1 - 4, 127/1 - 3)

In Wormez entsagt der König dem uneingeschränkten Anspruch seines Geschlechtes auf das Land kampflos zugunsten des Aggressors und ätzt die Züge der Gravur seiner eigenen Schwäche umso tiefer, als er seinem Gegenüber die Möglichkeit zur Mangelüberwindung verschafft ("dô wart der herre Sîfrit ein lützel sanfter gemuot" [127/4]).|3|

2.2 Weltmodell B (Endsituation)
2.2.1 Normen und Werte [nach oben]

Der Bau des Schlusses fußt wie der Beginn auf der Gestaltung unterschiedlicher geographischer Räume. Neben Wormez setzt der Text als Schauplatz "Etzelnburc" (1379/1) im Lande "Ungern" (1162/1), die im Verlauf der Handlung zum Hauptschauplatz wird. Betrachtet man die Bestrebungen König Etzels als Äußerungen eines verinnerlichten Normen- und Wertesystems, kann eine Übereinstimmung der beiden geographisch geschiedenen Teilwelten in Bezug auf sozio-kulturelle Standards angenommen werden:

... dô vrou Helche erstarp,
... der künic Etzel umb ein ... vrouwen warp,
[...] diu was ... Kriemhilt genant.
(1143/1 u. 2 u. 4)

Wie in den anderen vorgestellten Gesellschaftsformen wird die Ermangelung eines Ehepartners von den Teilnehmern des Systems als veränderungswürdiger Zustand erachtet.

Auch ist der Transfer von Zahlungsmitteln als Verfahren zur Festigung sozialer Bindungen symptomatisch:

Dô sprach ... Etzel: "vriunt, [...]

sô wirb ez, Rüedegêr, als liep als ich dir sî.
und sol ich Kriemhilde immer geligen bî,
des wil ich dir lônen [...]

Ûzer mîner kameren sô heiz' ich dir geben [...]
von rossen und von kleidern allez daz du wil. [...]"

Des antwurte Rüedegêr, der marcgrâve rîch:
"[...] ich wil dînes bote gerne wesen ...
mit mîn selbes guote, daz ich hân von der hende dîn."

(1149/1, 1151/1 - 3, 1152/1 u. 3, 1153/1 u. 3 u. 4)

Hierdurch äußert sich Zwischenmenschlichkeit als Handel oder Geschäftsbeziehung.

2.2.2 Personenkonstellationen [nach oben]

Ist das Gesellschaftssystem Burgonden auf die Gesamtheit der Regularien und Ideale menschlichen Miteinanders in Ungern übertragbar, hat Kriemhilts Fähigkeit, sich trotz religiöser und vielleicht ethnologischer Unterschiede an ihren neuen Lebensraum anzupassen, kaum Erklärungsbedarf:

Nu het si wol erkunnen, daz ir niemen widerstuont [...] (1391/1)

[...] si gedâhte: "ich bin sô rîche unt hân sô grôze habe,
daz ich mînen vînden gefüege noch ein leit.
des wære et ich von Tronege Hagen gerne bereit. [...]"
(1396/2 - 4)

Kriemhilt problematisiert eine Eheschließung mit König Etzel in Bezug auf die Religionen und fürchtet in der Gesellschaft diskreditiert zu werden:

Si gedâhte in ir sinne: "und sol ich mînen lîp
geben einem heiden (ich bin ein kristen wîp),
des muoz ich zer werlde immer schande hân. [...]"
(1248/1 - 3)

Diese Widrigkeit will die Christin tolerieren, um die durch Sîfrits Tod hervorgerufene Einbuße an Lebensqualität zu kompensieren:

Dâ von wart wol geringet dô der vrouwen muot.
si sprach: "sô swert mir eide, swaz mir iemen getuot,
daz ir sît der næhste, der büeze mîniu leit."
dô sprach der marcgrâve: "des bin ich, vrouwe, bereit."
(1257/1 - 4)

Do gedâhte diu getriuwe: "[...]
waz ob noch wirt errochen des mînen lieben mannes lîp?"
(1259/1 u. 4)

Si gedâhte: "[...]
mich hât der leidege Hagene mînes guotes âne getân."
(1260/1 u. 4)

Das in Kriemhilts Rede verwendete Wort "errochen" (1259/4) geht als Partizip Perfekt auf das Verb 'rëchen' zurück, das Lexer|4| u. a. als "ein unrecht bestrafen" (S. 164) übersetzt. Die 'Bestrafung von Unrecht' als Vergeltung eines Normenverstoßes koppelt sich wie der Verstoß selbst an Personen. Wenn Kriemhilt sich an Hagen für die Tötung Sîfrits rächen möchte, thematisiert sie erstens die Umstände des Ablebens ihres Mannes als Abweichung von den Sozialregulativen, weist sich zweitens die Befugnis exekutiver Gewalt zu und beruhigt drittens ihr schlechtes Gewissen. Kriemhilt problematisiert ihre Unschuld selbst:

"Daz ich niht vermeldet hete sînen lîp!
sô lieze ich nû mîn weinen, ...
holt wird' ich in nimmer die ez dâ hânt getân. [...]"
(1112/1 - 3)

Kriemhilt thematisiert ihre Tränen und die Traurigkeit als Folge ihres Verrates ("vermëlden ... kund tun wovon andere nichts wissen sollten, ... verraten." [Lexer, S. 274]), sucht aber als Verursacherin ihres eigenen Unglücks im gleichen Atemzug die Schuld bei anderen.

"[...] wer hât ... iuch des iuwern man
... sus mortlîche âne getân?"

"Hey sold ich den bekennen", sprach daz vil edel wîp,
"holt wurde im nimmer mîn herze unt ouch mîn lîp.
ich geriete im alsô leide [...]"

(1023/3 u. 4, 1024/1 - 3)

Die Geschädigte intendiert, Gleiches mit Gleichem zu vergelten: Mord. Deshalb zeigt sie Bereitschaft, die Maximen der Sittenlehre zu übertreten. Moralische Grundsätze als Norm werden hier dem Wert der Lebensqualität hintangestellt. Verfehlungen wider die Moral wie die Missachtung religiöser Prinzipien werden ohnehin allgemein geduldet:

[...] dô sprach der marcgrâve: "...
zwiu woldet ir verderben einen alsô schoenen lîp?
ir muget noch mit êren werden guotes mannes wîp."
(1254/2 - 4)

2.3 Hypothesen [nach oben]

Weder in Burgonden noch in Niderlant oder Ungern als komplementären Gesellschaftsentwürfen strebt das Personal nach Gewalt als Wert an sich; sie ist in allen Staaten vielmehr Anzeichen einer Normverletzung, gewinnt aber hier wie dort an Ansehen, wo sie mit dem Ziel der Verteidigung des eigenen Systems angewendet wird. In kultivierter Form wird sie deshalb bei Hofe praktiziert:

Der künic was komen übere unt mangen werder gast.
hey waz starker schefte vor den vrouwen brast!
man hôrt' dâ hurteclîchen von schilden manigen stôz.
hey waz rîcher buckelen vor gedrange lûte erdôz!
(585/1 - 4)

Îslant, die Heimat der von Gunther als Gattin Auserkorenen, gestaltet der Text als semantischen Extremraum von Wehrhaftigkeit (die als die enorme Kraft der Königin des Landes in der Person der Prünhilt symbolisiert wird). Hier dienen Kampfspiele nicht mehr der Kurzweile, sondern als Substitut des Eroberungskrieges.|5| Es geht um Leben und Tod:

Si sprach: "...
diu spil, diu ich im teile, getar er diu bestân,
behabt er des die meisterschaft, sô wird' ich sîn wîp,
unt ist, daz ich gewinne, ez gêt iu allen an den lîp."
(423/1 - 4)

Diu Prünhilde sterke vil groezlîche schein.
man truoc ir zuo dem ringe einen swæren stein [...]
in truogen kûme zwelfe, helde küene unde snel.

Den warf si z'allen zîten, sô si den gêr verschôz. [...]

(449/1 u. 2 u. 4, 450/1)

Der Text instrumentalisiert den Raum Îslant nicht nur für die Darstellung von Wehrhaftigkeit, sondern auch zur Setzung einer Sphäre konsequenter Normeinhaltung: Prünhilt erfüllt das, was sie als Bedingungen selbst vorgegeben hat, als sie sich Gunther unterwirft.

Als Gegenraum zu diesem Bereich beharrlicher Loyalität fungiert, ebenso konsequent, das Land der Nibelungen (hier noch nicht der Name der Burgonden). Als die Nibelungen bei der Lösung eines Problems Sîfrit um Hilfe bitten, ungehalten reagieren, als auch der Fremde nicht das bewerkstelligen kann, dessen sie selbst sich für unfähig befunden haben, und im Streit Sîfrit Land und Leute sowie den Schatz übernimmt (s. Hagens Rede, Str. 87 - 96), verlangt Ritter Sîfrit dem Zwergen Albrîch den Treueschwur ab:

"[...]

Done kund' im niht gestrîten daz starke getwerc. [...]
dô was des hordes herre Sîfrit [...]

Albrîch ... dô die kameren gewan.

Er muos' im sweren eide, er diente im sô sîn kneht. [...]"

(97/1 u. 4, 98/4, 99/1)

Diesen Eid bricht der Zwerg, als er aus Furcht vor dem Tod sich dem im Kampfe überlegenen, vermeintlich unbekannten Ritter unterwirft:

Lûte rief der küene: "lât mich genesen.
unt möht' ich iemens eigen ân' einen recken wesen
(dem swuor ich des eide, ich wær' im undertân),
ich dient' iu ê ich stürbe." ...
(498/1 - 4)

3 Das Aktantenmodell [nach oben]

Dieses Instrument der Textanalyse sucht nach Zusammenhängen in den Strukturen der auftretenden Personen. Eine Person wird hier gemäß ihrer spezifischen Leistung in der Handlung zum Aktanten. Hierdurch kann der Figur ein klar definierter Zweck in der Textgenese zugemessen werden.

3.1 Weltmodell A [nach oben]
 
Sender
Normen- und
Wertesystem
Sender zum Objekt Objekt

Kriemhilt
Objekt zum Empfänger Empfänger

Sîfrit
Subjekt zum Objekt
Widersacher
Gunther, Gêrnôt,
Gîselher, Hagen
Widersacher zum Subjekt Subjekt

Sîfrit
Helfer zum Subjekt Helfer

Sigmunt, Siglint
 

Das Modell der Aktanten des A. J. Greimas "est tout entier axé sur l'objet du désir visé par le sujet" (Greimas, S. 180).|6| Das Subjekt fokussiert ein Objekt, das ein Defizit tilgen soll, und bewegt sich auf dieses zu: Der alleinstehende Sîfrit begehrt Kriemhilt zur Frau und begibt sich deswegen nach Burgonden.

Im Aktantenmodell wird das Objekt zusätzlich in ein Kommunikationsmodell integriert. Daher sei es "comme objet de communication [situé] entre le destinateur et le destinataire" (S. 180). Der Sender in diesem Kommunikationsmodell ('le destinateur') ist im Nibelungenlied das Normen- und Wertesystem des Kollektivs bzw. der Kollektive.

Der Empfänger ('le destinataire') ist identisch mit dem Subjekt Sîfrit. Seine Anwesenheit hat das Dasein eines Objektes zur textlogischen Konsequenz:

Den herren muoten selten deheiniu herzen leit.
er hôrte sagen mære, wie ein scoeniu meit
wære in Burgonden, ze wunsche wolgetân [...]
(44/1 - 3)

Nu gie diu minneclîche [...]
dâ sciet von maneger nôt,
der si dâ truog in herzen und lange het getân. [...]
(281/1 - 3)|7|

Kriemhilt bildet den Aktanten des Objektes. Da nur Sîfrit als Subjekt das Objekt bekommen kann, weist Kriemhilt andere Brautwerber ab:

Swaz man der werbenden nâch ir minne sach,
Kriemhilt in ir sinne ir selber nie verjach,
daz si deheinen wolde ze eime trûte hân. [...]
(46/1 - 3)

Der Sender manifestiert sich durch die soziale Norm, die Zwischenmenschlichkeit als Handel oder Geschäftsbeziehung festlegt. Erst wenn der Empfänger Sîfrit Prünhilt unterworfen hat und Gunther sozusagen anbieten kann, soll er als Gegenleistung das Objekt Kriemhilt bekommen:

"Daz lob ich", sprach dô Gunther, "Sîvrit, an dîne hant.
und kumt diu scoene Prünhilt her in ditze lant,
sô wil ich dir ze wîbe mîne swester geben,
sô mahtu mit der scoenen immer vroelîche leben."
(334/1 - 4)

Als der Richtige auftritt, wandelt sich Kriemhilts ablehnende Haltung. Sie billigt und unterstützt sogar die Absichten ihres Bruders:

Dô sprach diu maget edele: "vil lieber bruoder mîn,
ir sult mich nicht vlêgen. jâ wil ich immer sîn,
swie ir mir gebietet, daz sol sîn getân. [...]"
(613/1 - 3)

"[L]e désir du sujet [est] ... modulé en projections d'adjuvant et d'opposant" (S. 180). Das Subjekt befindet sich aufgrund seines Mangels, den es zu überwinden beansprucht, in nachteiliger Position. Einerseits ist es den Störungen von Widersachern ('opposants') ausgesetzt, die die Entwicklung des Subjektes verhindern wollen, aber im glimpflichsten Falle nur hemmen können. Andererseits ist es auf den guten Willen von Helfern ('adjuvants') angewiesen.

Der Aktant der Widersacher wird von den Figuren Gunther, Gêrnôt, Gîselher und Hagen u. a. verkörpert:

Zuo der rede kômen Ortwîn unt Gêrnôt
dâ die helde rieten den Sîfrides tôt.
dar zuo kom ouch Gîselher [...]
(865/1 - 3)

"[...] jâ sol im von Hagenen immer wesen widerseit."

Dô sprach der künic Gunther: "wie mac daz ergân? [...]"

Der künic gevolgete übele Hagenen, sînem man. [...]

(873/4, 874/1, 876/1)

Mitwisser der Verschwörung gegen Sîfrit bzw. Augenzeugen des Mordes sind Ritter und Bedienstete:

Der künic mit sînen vriunden rûnende gie.
[...] noch heten ez gescheiden genuoge 'sküniges man [...]
(882/1 u. 3)

Von den jagtgesellen wurden dô gar bestân
die warte in allen enden [...]
(929/1 u. 2)

Den unverwundbaren Sîfrit ("'... sîn hût wart hurnîn. des snîdet in kein wâfen ...'" [100/3 u. 4]) zu töten, wird erst durch Kriemhilts Preisgabe der geheimen Stelle an Sîfrits Körper möglich. Die Erzählerinstanz thematisiert diese Handlungsweise explizit als Verrat:|8|

15. Âventiure

Wie Sîfrit verrâten wart

[...]

"[...] Ich meld iz ûf genâde, vil lieber vriunt, dir [...]

Dô von des trachen wunden vlôz daz heize bluot
und sich dar inne badete der küene ritter guot,
dô viel im zwischen die herte ein lindenblatt vil breit.
dâ mac man in versnîden: des ist mir sorgen vil bereit."

(901/1, 902/1 - 4)

Die Besorgte will die Kleidung des Todgeweihten manipulieren, um die empfindlichste Stelle Sîfrits für Hagen zu kennzeichnen:

Si sprach: "mit kleinen sîden næ ich ûf sîn gewant
ein tougenlîchez kriuze. dâ sol, helt, dîn hant
den mînen man behüeten [...]"
|9|

[...] dô was dâ mite verrâten der Kriemhilde man. [...]

(904/1 - 3, 905/3)

Der Aktant der Helfer ist durch Sîfrits Eltern besetzt, die ihrem Sohn den materiellen Nährboden liefern für die Verwirklichung seiner Pläne:

"[...] ich wil selbe zwelfte in Guntheres lant.
dar sult ir mir helfen, vater Sigmunt."
dô gap man sînen degenen ze kleidern grâ unde bunt.
(59/2 - 4)

[...] wider sîne muoter er güetlîche sprach: "[...]

Und helfet mir der reise in Burgonden lant [...]"

"Sît du niht wil erwinden", sprach frou Siglint,
"sô hilf' ich dir der reise, mîn einigez kint [...]"

(61/2, 62/1, 63/1 u. 2)

Sîfrits Gefolgsleute spielen in der Handlung kaum eine Rolle, wären aber dem Aktanten der Helfer ebenfalls zuzuordnen.

3.2 Weltmodell B [nach oben]

Die Aktantenstruktur wurde für die Textwelt A nun aufgezeigt, hat aber den gesamten Textkörper abzudecken. Wie kann diesem Anspruch im Nibelungenlied nachgekommen werden, wo die als Subjekt identifizierte Person im Paradigma der Endsituation gar nicht mehr auftritt?

Die reziproke Anziehungskraft|10| der beiden Aktanten Objekt vs. Subjekt mündet in der Einigung oder Neutralisation des Gegensatzes, als Kriemhilt und Sîfrit einander die Ehe zusichern bzw. diese vollziehen:

Von lieber ougen blicke wart Sîfrits varwe rôt.
ze dienste sich der recke vroun Kriemhilde bôt. [...]

si schamte sich ein teil.
iedoch sô was gelücke unt Sîfrides heil,
daz si in niht versprechen wolde dâ zehant.
ouch lobte si ze wîbe der edel künic von Niderlant.

[...] vor helden wart geküsset diu schoene küniginne sint.

(614/1 u. 2, 615/1 - 4, 616/4)

Dô der herre Sîfrit bî Kriemhilde lac,
unt er sô minneclîche der juncvrouwen pflac
mit sînen edelen minnen, si wart im sô sîn lîp. [...]
(629/1 - 3)

Aus diesem Umstand ergibt sich für die Weltordnung B folgende modifizierte Übersicht aktantieller Verteilung:

 
Sender
Normen- und
Wertesystem
Sender zum Objekt Objekt
Kriemhilt
+ Sîfrit
Objekt zum Empfänger Empfänger
Sîfrit +
Kriemhilt
Subjekt zum Objekt
Widersacher
Gunther, Gêrnôt,
Gîselher, Hagen
Widersacher zum Subjekt Subjekt
Sîfrit +
Kriemhilt
Helfer zum Subjekt Helfer

Etzel
 

Hinter der Abänderung der Textwelt A in Textwelt B steht als strukturgebendes Prinzip das Aktantenmodell. Ausgelöst wird diese Transformation durch das Ableben Sîfrits.

Gewiss ist Sîfrit als Person aus dem Repertoire der Handlungstragenden gestrichen, denn er wurde getötet:

Dâ ... Sîfrit ob dem brunnen tranc,
er schôz in durch das kriuze [...]

Den gêr im gein dem herzen stecken er dô lie [...]

Dô die herren sâhen, daz der helt was tôt,
si leiten in ûf einen schilt [...]

(981/1 u. 2, 982/1, 999/1 u. 2)

Sîfrit lebt aber als Subjekt in Kriemhilt weiter.

In der Agonie hat das Tatopfer noch die Kraft, seinen Unmut zu äußern, und formuliert das Strafmaß, das den Tätern zukommen solle:

Dô sprach der verchwunde: "jâ ir vil boesen zagen,
was helfent mîniu dienste daz ir mich habet erslagen?
ich was iu ie getriuwe; des ich engolten hân.
ir habt an iuwern mâgen leider übele getân.

Die sint dâ von bescholten, swaz ir wirt geborn
her nâch disen zîten. [...]
mit laster ir gescheiden sult von guoten recken sîn."

(989/1 - 4, 990/1 u. 2 u. 4)

Sîfrit spricht einen Fluch aus über die Verschwörer, indem er nicht nur die unmittelbar Beteiligten, sondern auch alle deren Nachkommen zum Unheil verwünscht.

Wie sich in der Handlung zeigt, werden die Nibelungen vom Unglück verfolgt. Dazu beigetragen hat Kriemhilt bzw. Kriemhilt und Sîfrit.

4 Zusammenfassung [nach oben]

Die Sinnkomplemente Liebe vs. Leid konnten als prägender semantischer Raum des Nibelungenliedes modelliert werden, der aufgrund sozialer sowie personaler Vorgaben in der Opposition Mangel vs. Begehren wurzelte.

Die Vergleichbarkeit der Sozialsysteme als Schauplätze wurde durch die topologische Trennung der Kollektive realisiert sowie durch die Beschreibung der Personen als Teilnehmer der Gesellschaft. Betreffs Systemtreue polarisierten sich das Land der Nibelungen vs. Îslant als Spiegelungen von Burgonden vs. Niderlant. Als Gegensätze konstitutiv wurden Ungern vs. Burgonden durch die unterschiedlichen Religionen.

Das Aktantenmodell beleuchtete Personen als sinngenerative Elemente des textuellen Kompositums und als Teilnehmer des Dialogs. Der Schlüssel zur Erklärung aktantieller Struktur in Teil B der Diegese liegt in der Verschmelzung des Objektes mit dem Subjekt, die nach dem Tod Sîfrits dazu führt, dass Kriemhilt als Subjekt agiert.

In ihrer neuen Eigenschaft als Empfängerin im Prozess der Kommunikation und in dem ebenfalls neuartigen Drang der Tilgung eines Defizits erfährt die bis dato passive Kriemhilt die Normen- und Werteordnung ihrer Welt. In der Rückschau erkennt sie die Folgenschwere ihres aus Naivität begangenen eigenen Verrats an dem Allerliebsten.

Die Einsicht in die eigene Schuld wird zum Beweggrund, als Kriemhilt unter Zustimmung ihrer Umwelt zum zweiten Male die Regeln bricht und die Ehe mit König Etzel eingeht, ein ganzes Land für sich verpflichtend. Indem sie auf Kosten der Moral mit Mord Vergeltung übt ("daz houpt si im ab sluoc" [2373/3]) kompensiert sie einerseits den Tod Sîfrits. Andererseits verschlimmert sie durch diesen dritten Normenbruch ihre Lage.

Die folgenden Worte des Erzählers mögen noch einmal zum Ausdruck bringen, welche entscheidende Rolle die Figur des Sîfrit im Nibelungenlied spielt:

[...] durch willen sîner sêle waz opfers man dô truoc! [...] (1052/3)