Sprachliche Untersuchungen
von
Auswandererbriefen des 19. Jh.
aus dem nordniederdeutschen Raum

  Inhalt
   
1 Einleitung
1.1 Vorgehen und Ziele
1.2 Quellen
1.3 Grundannahmen
   
2 Standardsprache im Korpus
2.1 Sprache als Element der Gesellschaft
2.1.1 Sprachkultur vs. Natur
2.1.2 Sprache vs. Schrift
2.1.3 Schriftsprache vs. Kommunikation
2.2 Standard in Schrift und Kommunikation - die Briefe
2.2.1 Anna Dorothea Stuhr 1818
2.2.2 Claus Postel 1868
2.2.3 Ihnke Kleihauer 1875
   
3 Auswandererbriefe
3.1 Alte Welt vs. Neue Welt
3.2 distanzsprachlich vs. nähesprachlich
3.3 Distanz vs. Nähe in der sprachlichen Wirklichkeit
3.3.1 Sprecher über Amerika
3.3.2 Sprecher über Deutschland
3.3.3 Muttersprache vs. Vaterland
3.4 Fehleranalyse
   
4 Zusammenfassung
   
5 Literatur
1 Einleitung [nach oben]

Über Repräsentativität der 40 Auswandererbriefe des 19. Jh. im Korpus dieser Arbeit soll nicht gestritten werden angesichts der Tatsache, dass "[e]twa 280 Millionen Briefe ... zwischen 1820 und 1914 aus den USA nach Deutschland ... geschickt [wurden]" (HELBIG/KAMPHOEFNER/SOMMER 1988, 31). Technischer Fortschritt und Industrialisierung sind die Schlagworte des 19. Jahrhunderts, in dem sich Auswanderung zu einem "Massenphänomen" ausweitete, "als Dampfschiffe die Segler ersetzten, die Dauer der Überfahrt von 8 bis 10 Wochen auf 8 bis 10 Tage verkürzt wurde" (BÖTTCHER 1997, 9). Die auf logische Schlüssigkeit und Normierung gestützte Funktionalität der Maschinen bildete sich im 19. Jahrhundert in der Gesellschaft der Menschen selbst ab und hier eben auch in der Strukturierung von Sprache und Schrift als Mitteln der Kommunikation:

"Mit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, mit der effizienteren und engmaschigeren staatlichen Organisation und ihrer Verwaltungsmaschinerie, speziell mit der allgemeinen Wehrpflicht und der Hochschätzung der Einheitlichkeit in den Uniformen sowie der Präzision in der Bedienung der Waffen, aber auch mit der industriellen Entwicklung und der ... maschinellen Herstellung ... stiegen auch die Ansprüche an die Gleichartigkeit und die Präzision des Schriftbildes bei jedermann ..." (GLINZ/SCHAEDER/ZABEL 1987, 22)

Diesen sprachlichen Anforderungen wurde allerdings nicht jedermann gerecht - trotz der "Massenalphabetisierung, durch die zum ersten Mal in der deutschen Sprachgeschichte die Mehrheit der Bevölkerung an eine ... Beherrschung der geschriebenen Sprache ... herangeführt wurde" (ELSPASS/DENKLER 2003, 131).

Das Abweichen von der Norm kann unterschiedlich bewertet werden. Sorgen um die Orthographie seiner Zeit machte sich Jacob Grimm:

"es ist nichts kleines, sondern etwas groszes und in vielen dingen nützes seine sprache richtig zu schreiben. das deutsche volk hängt aber so zäh und unberathen an dem verhärteten schlimmen misbrauch, dasz es eher lebendige und wirksame rechte, als von seinen untaugenden buchstaben das geringste fahren liesze." (GARBE 1978, 54)|1| [zum Zurückgehen bitte Browserbutton verwenden]

Die deutsche Standardsprache war "keine im volk gesprochene sprache, kein zur herrschaft gelangter dialekt wie zur zeit hochhöfischer dichtung im mittelalter, sondern eine Art von Kunstprodukt, eine schriftsprache, die sich über den verschiedenen mundarten gebildet hatte" (BRAMANN 1987, 28). Ebenso zahlreich wie die verschiedenen Dialekte der deutschen Sprache konnten die Entwürfe ihrer Vereinheitlichung sein.

Die "Kluft" zwischen "[den]jenigen, die die komplizierten Regeln der Rechtschreibung ... beherrschten ..., und [den]jenigen, die die Rechtschreibung nicht genügend beherrschten, die daher als ungebildet, ja als dumm betrachtet wurden ..." (GLINZ/SCHAEDER/ZABEL 1987, 22), wird für sprachwissenschaftliche Untersuchungen ergiebig, als man nun über die "Mangelhaftigkeit der Sprachformen aus hd. Sicht ... in einer positiven Umkehrung den eigenständigen Wert der Fehler ... für die Erforschung der regionalen Umgangssprachen betonen [will]" (ELSPASS/DENKLER 2003, 133 - 134, FN 7).

Die Emigration der Briefeschreiber hat die schrittweise Substitution des Deutschen durch das Englische als die allmähliche Aufgabe der Muttersprache bei gleichzeitiger Annahme der fremden Sprache zur Folge, wie in den Briefen zu sehen ist. Auch wenn es Siedlungen gab, in denen "[d]ie Auswanderer ... ein ausgebautes landsmannschaftliches Geflecht mit einem zu großen Teilen schon institutionalisierten deutschen Vereins- und Kulturleben vor[fanden]" und "das Englische in der alltäglichen Kommunikation ... kaum eine Rolle spielte" (ELSPASS/DENKLER 2003, 138), haben die deutschen Einwanderer die soziale und auch sprachliche Anpassung an die amerikanischen Verhältnisse über kurz oder lang nicht vermeiden können. Da der Einfluss der englischen Sprache in den Briefen noch gering ist, können diese schriftlichen Zeugnisse für die Erforschung norddeutscher Regiolekte des 19. Jh. herangezogen werden.

1.1 Vorgehen und Ziele [nach oben]

Beim Lesen und Transliterieren der hier verwendeten Briefe ist aufgefallen, dass die meisten Schreiber auch innerhalb desselben Briefes viele Wörter orthographisch variiert hervorbringen, auch solche, die eigentlich leicht zu schreiben sind.|2| Diese Unsicherheiten halten die Schreiber aber nicht davon ab, ihre Gedanken in Worte zu fassen und niederzuschreiben. Der Kontakt zu Verwandten in der Alten Welt war als kommunikatives Bedürfnis der transatlantischen Auswanderer nur über das Medium des Briefes aufrechtzuerhalten. Ob die Vielfalt in der Schreibung auf persönliche schulische Defizite des Schreibers zurückzuführen ist oder auf uneinheitliche Regeln einer noch uneinheitlichen Rechtschreibung,|3| ist für diese Arbeit nicht relevant. Die Schreibfehler sind neben sprachlichen Fehlern Ausdruck von Umgangssprache, die in dieser Arbeit beleuchtet werden soll.

Anhand dreier Briefe des Korpus, die als amtliche Gesuche die standardsprachliche Norm des 19. Jh. vorbildhaft erfüllt haben mögen und deshalb für korrekte Rechtschreibung exemplarisch sind, soll sowohl der sprachliche Standard dieser Zeit als auch der damit einhergehende Standard sprachlichen Handelns charakterisiert werden.

Danach werden die privaten Briefe, die eigentlichen Auswandererbriefe, präsentiert, indem zunächst die thematischen Gesichtspunkte, um die die Briefe kreisen, herausgestellt werden. Diese inhaltlichen Grundkomponenten werden dann in ihren Formulierungen auf 'distanzsprachliche' vs. 'nähesprachliche' Elemente untersucht.

Im darauf folgenden Schritt werden die Auswandererbriefe einer Fehleranalyse unterzogen. Die Briefe weisen Formen auf, die in Bezug auf die Standardsprache als falsch anzusehen sind. Die durch nd. Dialekt motivierten Formen oder Fehler|4| sind als Regionalismen die sprachlichen Elemente einer spezifisch norddeutschen Umgangssprache.

Die simple Erklärung für das Vorherrschen nhd. Standardformen in den Briefen ursprünglich nd. Sprecher, dass "das Zusammentreffen von Pflichtschulbesuch und Massenauswanderung ... [dazu führte], daß die neu erworbenen Fähigkeiten nun wegen der großen zu überbrückenden geographischen Distanz auch zum Einsatz kamen" (WEBER 1995, 265), soll durch die Ergebnisse der Analyse gestützt werden.

1.2 Quellen [nach oben]

Mit 34 Briefen stammt der Großteil der 40 Dokumente des Korpus aus der NABS (Nordamerika-Briefsammlung), Forschungsbibliothek Gotha. Transliterationen lagen zu den meisten Briefkopien vor, die allerdings bis auf wenige Ausnahmen keine Eins-zu-eins-Wiedergabe der Briefe boten, sondern freie Übertragungen in modernes Hochdeutsch.

Als zweite Quelle wäre das Nordfriesische Institut, Bredstedt, zu nennen (zwei eingescannte Originalbriefe, ein kopierter Brief).

Die dritte Quelle war die "Hapag Halle Cuxhaven", gescannte Briefe und andere Dokumente zum Thema Auswanderung im 19. Jh. wurden auf der Website hapag-halle-cuxhaven.de zur Verfügung gestellt (drei eingescannte Originalbriefe).

1.3 Grundannahmen [nach oben]

Als "[i]m Durcheinander der Kleinstaaterei ... nach der Mitte des 15. Jh. ... die deutsche Zentralgewalt auf den Tiefpunkt gesunken [war]" und "[d]er Buchdruck ... und die Wirkung von Luthers Sprache ... die ... Vereinheitlichungstendenzen im geschriebenen Deutsch [förderten]" (PROTZE 2001, 505), war der Grundstein für die heutige Standardsprache Deutsch gelegt. Die Konzeption und Weiterentwicklung dieser neuen Sprache bestimmte nicht das Volk, da "die Mehrheit der Bevölkerung von der Beherrschung der Schrift ausgeschlossen [blieb], so daß ... das Schreiben ein Privileg des Klerus oder klerikal gebildeter Personen war" (WEBER 1995, 265). Im Verlauf der Geschichte hatte sich dies geändert:

"Der Prozeß der Herausbildung einer Standardsprache als überregionaler Verkehrs- und Bildungssprache des aufgeklärten Bürgertums und deren Anerkennung als Prestigevarietät ist am Ende des 18. Jahrhunderts abgeschlossen." (SCHIKORSKY 1990, 24)

Innerhalb von 350 Jahren hat das Neuhochdeutsche als Produkt von Schriftgelehrten den Status einer allgemein bekannten und verständlichen Einheitssprache erlangt. Die Allgemeinverständlichkeit der Hochsprache wurde im Deutschland des 19. Jh. in staatlichem Interesse funktionalisiert:

"Ein politisches Ziel, das der damalige Staat verfolgte, bestand in der Integration aller Bürger zu einem Staatsvolk ... Alle Deutschen sollten eine gemeinsame Sprache sprechen. Da es aber eine einheitliche deutsche Sprache damals nur in schriftlicher Form gab, wurden die Schulen, in denen diese gelehrt wurde, zu Agenturen des Staates, in denen die Schriftsprache nicht nur erworben, sondern von denen aus sie auch in alle Teile und Schichten der Bevölkerung getragen werden sollte." (LUDWIG 1998, 161)

Sicherlich war das Bürgertum in Bezug auf Kenntnisse in der neuen, Regionen übergreifenden Sprache der Arbeiterklasse zunächst überlegen:

"[D]ie Sozialstruktur der Städte [erhielt] ... von zwei ... Klassen ihr Profil ...: vom Bürgertum einerseits und von der sich ... formierenden Arbeiterklasse andererseits ... [A]uf eine durch Tradition und bisherige Entwicklung auch kulturell bereits etablierte Bevölkerungsgruppe mit bestimmten ... Sprachverwendungsnormen [stieß] ... eine zweite ..., die erst im Verlauf des 19. Jh. zu sich selbst fand ..." (KETTMANN 1981, 41)

Die Beherrschung der Standardsprache und der diesbezügliche Vorsprung des Bürgertums gegenüber den Arbeitern sollte indes nicht verwechselt werden mit einer überlegenen sprachlichen Kompetenz:

"Die weniger Gebildeten zeichneten sich dort, wo sie Hochdeutsch zu sprechen versuchten, durch eklatante Kompetenzdefizite aus." (CORNELISSEN 1999, 92)

Mitunter kann ein nicht stilreines Hochdeutsch gewollt sein, wenn sog. Switching bzw. Varietätenumschalten zu beobachten ist, d. h. "die situativ bedingte Aufgabe einer dialektalen Varietät und der schlagartige Übergang zu einer anderen Varietät" (MATTHEIER 1996, 34).

2 Standardsprache im Korpus [nach oben]

Nun soll gezeigt werden, an welchem Punkt der Entwicklung sich die sprachliche und gesellschaftliche Standardisierung im 19. Jh. befindet.

2.1 Sprache als Element der Gesellschaft
2.1.1 Sprachkultur vs. Natur [nach oben]

"Wenn man Kultur als eine Erscheinung auffaßt, die sich sowohl auf die praktischen als auch auf die verschiedenen geistigen Fähigkeiten, Errungenschaften und Bedürfnisse der Menschen bezieht, so ist sie eine Seite des gesellschaftlichen Lebens, die allen Bereichen immanent ist ..." (NERIUS 1987, 15)

Kultur wird nicht allein als materielle und ideelle menschliche Produktivität angesehen, sondern auch als die Gesamtheit der kooperativen Aktivitäten, die kulturelles Allgemeingut hervorbringen:

"Der eigentliche Inhalt des Kulturbegriffs ist die Entwicklung und allseitige Herausbildung des menschlichen Wesens im Ringen um die Beherrschung der Natur und ganz besonders des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Kultur bezeichnet einerseits den Prozeß der Vervollkommnung, wobei dieser Prozeß als eine schöpferische gesellschaftliche Tätigkeit aufzufassen ist, und andererseits den Entwicklungsstand, der bei diesem Prozeß in einer gegebenen Gesellschaftsformation erreicht wurde ..." (NERIUS 1987, 15)

Die Kultur formt als ernstes Streben der Menschen nach Beherrschung der Natur und Beherrschung des gesellschaftlichen Zusammenlebens den Menschen selbst - und seine Sprache:

"Da die Sprache sowohl mit der gegenständlich-praktischen als auch mit der intellektuellen, moralischen, ästhetischen etc. Tätigkeit des Menschen im Zusammenhang steht, ja diese Tätigkeiten ohne Sprache gar nicht möglich sind, spielt sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eine Rolle. Kultur ist ohne Sprache undenkbar, aber auch die Umkehrung dieses Satzes gilt: Sprache ist ohne Kultur undenkbar. Kultur ist eine Seite der Sprache, die zu ihr gehört. Der Begriff Sprachkultur bezeichnet nun die Komponente des Kulturbegriffs, die speziell die Sprache betrifft. Er bezieht sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ..." (NERIUS 1987, 15)

Die Opposition 'Sprachkultur' vs. 'Natur' deutet auf den Wunsch des Menschen nach Kontrolle, Steuerung und Strukturierung der Natur als des Unkontrollierten, Ungezügelten und Unstrukturierten. Die Definition von Sprache als Kulturgut impliziert demnach Regellosigkeit als sprachlichen Urzustand. Die Einschätzung der Sprache als einen an sich normfreien Raum leuchtet bei der Betrachtung der Auswandererbriefe ein, da sich die Sprecher auch in Abweichung von der Norm verständlich machen können. Ausdruck von 'Sprachkultur' als Gegenbewegung zur 'Natur' wäre die orthographische Normierung. Schwierigkeiten bei der Normierung der deutschen Sprache werden im 19. Jh. thematisiert:

"bei keinem volk in der welt geht die vereinfachung der schrift so schwer wie bei uns von statten ..." (Jacob Grimm = GARBE 1978, 62)

2.1.2 Sprache vs. Schrift [nach oben]

"Es wird klar, daß das Einsetzen der Schrift prinzipiell als eine Ausweitung der sinnlichen Komponente der Sprache vom Akustischen ins Optische anzusehen ist. Das Schriftzeichen vollbringt nicht eine eigene symbolische Leistung, sondern weitet nur die sinnliche Seite vom Hörbaren ins Sichtbare aus. Die gestaltete geistige Welt wird dadurch nicht primär betroffen. Wohl aber wirken sich die Bedingungen dieses verdoppelten sinnlichen Zugangs auf die Verfügbarkeit auch des Inhalts aus ..." (WEISGERBER 1964, 21)

Der Visualisierung der Sprache geht eine intellektuelle Leistung voraus, die Objektivierung der Muttersprache:

"Die Überführung der unreflektiert in einer Gemeinschaft lebenden (geltenden) Muttersprache in eine bewußte Überschau und Einsicht ist einer der folgenschwersten Akte menschlicher Selbsterkenntnis. Er beschließt in sich eine ungeheure geistige Anstrengung und er bedarf neuer Formen, in die seine Ergebnisse eingehen. Der Weg dieser Objektivierung geltender Muttersprache ist die Verschriftung: als schriftlich niedergelegte, gebuchte Sprache tritt die unreflektiert in der Sprachgemeinschaft lebende Muttersprache ihren Trägern in neuer Weise gegenüber." (WEISGERBER 1964, 21 - 22)

Die Schrift als Vergegenwärtigung der Sprache ist das Resultat von Selbstreflexion. Die Schriftsprache bleibt hierbei in der Muttersprache verankert:

"Die Absicht der Schrift ist, die Töne des Mundes dem Auge sichtbar darzustellen. Sie kann also keine andere[n] Töne darstellen, als gesprochen werden ... Hierauf gründet sich nun das erste und vornehmste Gesetz der Schrift: Schreib[,] wie du sprichst." (GARBE 1978, 38)

Im Falle der nhd. Schriftsprache könnte es mit Hinblick auf die Dialekte auch heißen: Schreib, wie du sprechen sollst.

2.1.3 Schriftsprache vs. Kommunikation [nach oben]

Buchstaben und Schrift ermöglichen neben der Darstellung auch die Umformung der Sprache, wie das Konstrukt der nhd. Standardsprache belegt. Allgemeingültigkeit gewinnt diese neue sprachliche Form durch die Zurücknahme der Individualität des Sprechers zugunsten der Kollektivität der Sprechergemeinschaft. Die Schriftsprache basiert von daher im besten Sinne auf Norm.

"Sprachliche Normen können zunächst ganz allgemein als ein Teil der sozialen Normen der Gesellschaft verstanden werden, in diesem Fall als Normen, die das sprachlich-kommunikative Handeln der Menschen in der Gesellschaft regeln." (NERIUS 1987, 26)

Die Festlegung schriftsprachlicher Normen steht demnach in Wechselwirkung mit der Ausprägung sozialer Richtlinien.

"[Sprachliche Normen] stellen Verallgemeinerungen dar, die aus der sprachlich-kommunikativen Tätigkeit einer Gemeinschaft gewonnen werden und gleichzeitig dieser Tätigkeit auch wieder als Richtschnur zugrunde liegen. Konkreter heißt das: Sprachliche Normen sind immer Auswahlgrößen aus der Gesamtheit der Möglichkeiten, die die Sprache in einem bestimmten Zeitraum in einer Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Nicht alle, sondern nur bestimmte Möglichkeiten der Bildung und Verwendung sprachlicher Äußerungen entsprechen also der Norm." (NERIUS 1987, 26)

Wie das System der nhd. Standardsprache aus einem Inventar ausgewählter sprachlicher Elemente entwickelt wurde (Sprachsystemnormen), unterliegen auch die sprachlichen Handlungsformen, die gesellschaftlich adäquat sein sollen (kommunikative Normen), der gezielten Auswahl.|5|

"Auswahl und Verbindlichkeitsanspruch als die charakteristischen Kennzeichen der sprachlichen Norm werden letztlich bestimmt von den kommunikativen Bedürfnissen der jeweiligen Gemeinschaft, die ihrerseits in differenzierter Weise durch die bestehenden sozialen Strukturen und deren Auswirkungen geprägt werden. Insgesamt ist die Existenz sprachlicher Normen eine entscheidende Grundlage für die Stabilität und das kontinuierliche Funktionieren der Kommunikation in der Gesellschaft." (NERIUS 1987, 27)

Aus einem Angebot vorhandener, tradierter Verhaltensmuster werden diejenigen Formen für kommunikativ verbindlich erklärt, die sich in gesellschaftlichen Prozessen als sozial angemessen erweisen können. Wie nicht erwünschte Handlungsweisen keine Aufnahme in die kommunikativen Normen finden, wird vom Standard abweichende Schreibung oder Lautung keiner Systemnorm zugerechnet.

"Durch die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit wird die geschriebene Sprache zu einem Mittel der indirekten Kommunikation, bei der der Kommunikationspartner nicht unmittelbar anwesend ist oder zu sein braucht ... Die geschriebene Sprache zwingt durch die Abwesenheit des Kommunikationspartners und die fehlende Situationshilfe zu maximaler Ausgestaltung der sprachlichen Äußerung. Der mitzuteilende Inhalt muß möglichst umfassend ausgeformt werden, da der Kommunikationspartner für seine Erfassung allein auf den geschriebenen Text angewiesen ist." (NERIUS 1987, 20 - 21)

Das Fehlen von Unmittelbarkeit in der schriftlichen Kommunikation muss mithilfe der geschriebenen Formulierungen selbst kompensiert werden. Das Schriftdeutsch hat im Zuge seiner Aufgabe, räumliche sowie zeitliche Barrieren zu überbrücken, als indirektes Kommunikationsmedium sprachliche Unterschiede in Deutschland getilgt.

"Die geschriebene Sprache ist in erster Linie das Mittel der indirekten Kommunikation, sie ist nicht an das Hier und Jetzt gebunden, sondern macht die Kommunikation von räumlicher und zeitlicher Begrenztheit unabhängig; ihre Reichweite, ihre Bewahrbarkeit und Wiederholbarkeit, ihre Genauigkeit, Vollständigkeit und Überschaubarkeit machen sie der gesprochenen Sprache in dieser Hinsicht überlegen. Sie erhält deshalb in den kommunikativen Situationen den Vorrang, in denen die bewußtere und kompliziertere Tätigkeit, die zu ihrer Ausformung erforderlich ist, in Kauf genommen wird." (NERIUS 1987, 21)

Die Indirektheit als Charakteristikum schriftsprachlicher Kommunikation verändert nicht nur die sprachliche Form, sondern auch die mit ihr vermittelten Aspekte sprachlichen Handelns. In standardsprachlichen Texten liegt der kommunikative Schwerpunkt auf der Vermittlung von Verständlichkeit, d. h. Fehlinterpretationen der Botschaft oder Missverständnisse sollen ausgeschlossen werden. Die Bedachtsamkeit in der Wortwahl gibt der Standardsprache "einen mehr statischen Charakter" (NERIUS 1987, 21). Der nicht auf Beweglichkeit ausgelegte Sprachstil kommt zustande, weil ein unmittelbar einwirkendes Gegenüber nicht angenommen wird bzw. fehlt, das als Empfänger der Botschaft durch spontane Rückmeldung die Nachricht des Senders im Übermittlungsprozess beeinflussen würde. Da der Sprecher sich auf die Eindeutigkeit seiner Ausführungen konzentrieren will bzw. muss, wird die Komplexität schriftsprachlicher Äußerungen gesteigert:

"Hier sind die Sätze ... in der Regel voll ausgeformt, ihre Wortstellung ist fester ... und sie sind im Durchschnitt erheblich länger als in der gesprochenen Sprache, wobei umfangreiche hypotaktische Konstruktionen ... besonders charakteristisch sind ..." (NERIUS 1987, 22)

Diese Erweiterung sprachlicher Mittel ist als Bereicherung des Phänomens Sprache ein Vorteil für die Sprache als Element der Gesellschaft.

2.2 Standard in Schrift und Kommunikation - die Briefe [nach oben]

"Man kann es sich gar nicht deutlich genug machen, daß nach einer eintausendeinhundertjährigen Geschichte deutschsprachiger Texte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gesamte Sprechgemeinschaft in der Lage ist, an der deutschen Schriftsprache aktiv und passiv als Schreiber und Leser teilzunehmen. In den sozialen Beziehungen einer komplex und kompliziert gewordenen Gesellschaftsorganisation ist die schriftliche Verständigungsmöglichkeit unerläßlich geworden." (GROSSE/GRIMBERG/HÖLSCHER/KARWEICK 1989, 12)

Die kulturelle Entwicklung hat mit Hinblick auf die Sprache im 19. Jh. einen Höhepunkt erreicht, als die objektivierte, verschriftete Sprache allen Teilhabern des Sozialsystems zugänglich wird.

"Die Organisationsformen des Zusammenlebens, die staatlichen, städtischen und dörflichen Verwaltungen kommen ohne den Schriftverkehr nicht mehr aus. An die Stelle der direkten, persönlichen Vorprache tritt ... die schriftliche Eingabe. Der Bürger hat sich eine immer weiter verfestigende Standardform der Sprache anzueignen, die er selbst nicht spricht, aber deren schriftliche Beherrschung bald sein persönliches Ansehen ... bestimmt." (GROSSE/GRIMBERG/HÖLSCHER/KARWEICK 1989, 12)

Die folgenden drei Briefe aus den Jahren 1818, 1868 und 1875 sind an staatliche Instanzen gerichtete Anschreiben, also Zeugnisse schriftsprachlicher Kommunikation zwischen Staatsbürgern und dem Verwaltungsapparat. Ziel und Zweck dieser Schriftsätze sind explizit formuliert: Der Schreiber benötigt für ein persönliches Anliegen die Unterstützung der Behörden.

"[J]edermann ... muß an der schriftlichen Kommunikation teilnehmen, um nicht aus dem sozialen Netz herauszufallen. Man kann jetzt nicht mehr, wie es früher im überschaubaren und sich wenig verändernden Lebenskreis möglich war, das, was man erreichen wollte beim Amt, in der Verwaltung oder bei der zuständigen Behörde mündlich vortragen. Das größer und komplexer gewordene kommunale und staatliche Organisationsgeflecht erfordert ... die schriftliche Mitteilung ..." (GROSSE/GRIMBERG/HÖLSCHER/KARWEICK 1989, 13)

Der Dialog zwischen Bürger und Staatsorgan ist immer die Interaktion des Einzelnen mit der Gemeinschaft, die zur Sicherung des friedlichen Miteinanders der Individuen Verhaltensmaximen gesetzlich festgelegt hat. Will der Einzelne die Gemeinschaft für die Befriedigung eines individuellen Bedürfnisses in Anspruch nehmen, muss er seinen Anpassungswillen in Bezug auf die sozialen Normen zur Geltung bringen. Hat sich die gesellschaftliche Interaktion als Sprachkultur auf die Schrift verlagert, bleibt dem Individuum als einziger Weg die Einhaltung der schriftsprachlichen Norm, um sein Verhalten als sozial angemessen darzustellen:

"[D]er Schreibende [muß] ... im amtlichen ... Schriftverkehr eine Stil- und Schreibhaltung annehmen ..., um den konventionellen Regeln des gesellschaftlichen Umgangs gerecht zu werden." (GROSSE/GRIMBERG/HÖLSCHER/KARWEICK 1989, 13)

Im Dialog mit den Behörden thematisiert sich der Bürger mithilfe sprachlicher Mittel als Mitglied der Gesellschaft, indem er seine eigene Person als weniger bedeutungsvoll darstellt als die Gemeinschaft:

"Die ausgeprägte hierarchische Staffelung der Verwaltungsinstanzen und ihrer jeweiligen Amtsinhaber oder die Ehrerbietung gegenüber Älteren, Vorgesetzten und Standespersonen erfordern sprachliche Gesten, dekorreiche Figuren und Wendungen, die Unterwürfigkeit, devote Haltungen, Bescheidenheit und Ehrfurcht ausdrücken, also immer ein Gefälle zwischen Adressat und Absender zeigen." (GROSSE/GRIMBERG/HÖLSCHER/KARWEICK 1989, 13)

2.2.1 Anna Dorothea Stuhr 1818 [nach oben]

Die Besonderheit des ersten standardsprachlichen Briefes beruht auf der Konstellation von Sender und Empfänger. Die Sprecherin und Senderin übermittelt ihre Botschaft über einen Dritten:

  Pro Memoria

Die Wittwe Anna Dorothea Stuhr
sieselbst hat angezeigt, daß ihre beiden
landwehrpflichtigen Söhne Christian Heinrich
und Johann Gottlieb Stuhr sich zum Mili=
tair-Dienst in Amerika haben anwer=
ben lassen, und sich auf einem jetzt
zu Cuxhaven im Hafen liegenden Schiffe
befinden sollen.
Eure Wohlgebohrnen ersuchen wir
gehorsamst, im Fall letzteres gegründet
ist, der Wittwe Stuhr, welche dieses Schrei=
ben selbst überbringen wird, geneigte
Protection angedeihen zu lassen, daß
ihre Söhne ihr zurückgegeben werden.
Wir haben die Ehre, Eurer Wohlgebohr
nen unsere ausgezeichnete Hochachtung
zu bezeugen.
Otterndorf den 23 December 1818.

  Der Magistrat.
  ...

Die Bürgerin 'Anna Dorothea Stuhr' trägt ihr persönliches Anliegen nicht unmittelbar an das Staatsorgan 'Eure Wohlgebohrnen' heran, sondern über die ebenfalls staatliche Instanz 'Magistrat'.

"Der kommunikative Zweck bzw. das Ziel, das diejenigen, die ein Konzessionsgesuch einreichten, verfolgten, war die Erlangung einer staatlichen Genehmigung ... Damit gehören die Konzessionsgesuche zu den Texten mit direktiver Textfunktion. Für Konzessionsgesuche ist der Sprechakt des BITTENS eindeutig dominant ..." (FLESKES 1998, 406)

"Jeder direktive Sprechakt ... zielt auf eine Reaktion des Kommunikationspartners, die anzeigt, ob der Anspruch des direktiven Sprechakts vom Kommunikationspartner übernommen wird oder nicht. Diese Reaktion kann bereits die materielle Handlung sein ..." (WEIGAND 1989, 14)

Das Syntagma 'Eure Wohlgebohrnen ersuchen wir' realisiert einen direktiven Sprechakt, die (in eine Bitte gekleidete) Aufforderung kommt über das performative Verb 'ersuchen' explizit zum Ausdruck.

Der Sprecher erscheint pluralisiert, im Text begegnet das Personalpronomen 1. Pers. Nom. Pl. 'wir'. Kein Individuum führt die Kontaktaufnahme durch, sondern der 'Magistrat' als Behörde, die hier die Bürger repräsentiert und im Wir-Ton agiert. Zwischen den beiden staatlichen Instanzen 'Magistrat' vs. 'Eure Wohlgebohrnen' besteht ein hierarchisches Gefälle, da der Sprecher so genannte Devotionsformen verwendet:

"Alle ausgewerteten Texte sind ... mit Devotionsformen durchsetzt. Die Devotion konnte auf verschiedene Weise ausgedrückt werden: durch die Untertänigkeit ausdrückende attributive und adverbiale Adjektive (die allerunterthänigste Bitte, allerehrerbietigst vorzutragen), durch den Einsatz bestimmter Verben oder Verbalkomplexe einschließlich der ... Modalverben (zu schenken geruhten, die Ehre haben, sich versichert halten zu dürfen), Nomen (Unterthan, Bittsteller, Herrscher) und natürlich durch die Titulatur." (FLESKES 1998, 410)

Die verbale Konstruktion 'die Ehre haben' findet sich im Syntagma 'Wir haben die Ehre, Eurer Wohlgebohrnen unsere ausgezeichnete Hochachtung zu bezeugen', in welchem die verbale Konstruktion 'jmdm. seine Hochachtung bezeugen' ein weiteres Devotionssignal des Sprechers darstellt. Das attributive Adjektiv 'ausgezeichnet' fungiert aufgrund seiner lexikalischen Bedeutung als Devotionsform. Als Ausdrucksverstärkung fungiert das Halbpräfix 'hoch' in 'Hochachtung'. Die Titulatur 'Eure Wohlgebohrnen' (2-mal) enthält das positiv wertende Adjektiv 'wohlgebo(h)ren' als Devotionsform. Die verbale Konstruktion 'jmdm. Protection angedeihen lassen' ist aufgrund des ornamentalen Charakters ebenfalls eine Devotionsform. Als Devotionsform fungiert das attributive Adjektiv 'geneigt' in 'geneigte Protection' sowie das adverbiale Adjektiv 'gehorsamst', dessen Superlativ eine Intensivierung bewirkt. Das Verb 'ersuchen' kann aufgrund seiner lexikalischen Bedeutung als Devotionsform gelten.

2.2.2 Claus Postel 1868 [nach oben]

Im folgenden standardsprachlichen Brief wendet sich der 'Schlössermeister und Gastwirth Claus Postel' als Sprecher an den 'wohllöblichen Magistrat der Stadt Otterndorf' als Angesprochenen:

No330, ... 2/4 68.

  An
  den wohllöblichen Magistrat
  der Stadt Otterndorf
   
  Gehorsamstes Gesuch
  von
  dem Schlössermeister und Gastwirthe Claus
  Postel in Otterndorf.
  wegen
  Erlaubniß zur Auswan=
Anlagen: derung für meine beiden
2 Geburtsscheine. Söhne
__________ 1. Carl Friedrich Amandus
  Postel geboren den 17.
  Julius 1846 zu Ottern=
  dorf,
  2. Rudolph Wilhelm August
  Postel geboren den 6.
  December 1847 zu Ot=
  terndorf.
  ____________
   
  Die

[neue Seite]

Die geringe Gewerbsthätigkeit hie=
siger Stadt, der ich mein Vermögen habe
zum Opfer bringen müssen, zwingt mich
zu anderen entscheidenden Schritten, als ich
solche hier in meinem Gewerbebetriebe be=
folgte. Ich muß, will ich nicht der gänz=
lichen Verarmung entgegen gehen, die hie=
sige Stadt, in welcher ich schon andere Er=
werbzweige als das meines erlernten Hand=
werks, aber leider erfolglos zu betreiben un=
ternahm, verlassen um an anderen Orten
bessere Gelegenheit zum Verdienste und zur
Ernährung meiner Familie suchen. Zu die=
sem Zwecke habe ich mich bereits in Ham=
burg und in anderen Orten, wo ich Fami=
lie und Bekannte habe, umgesehen, indeß
vergeblich. Bei vorgerücktem Alter und bei
den in hiesigen Landen geltenden Gewer=
be= und Gewohnheitsverhältnissen der Be=
wohner, läßt sich schwerlich ein neuer Ge=
werbebetrieb mit Erfolg an fremden Or=
ten unter unbekannten Personen begrün=
den. Deshalb sind meine Blicke über den
Ocean gerichtet, wohin die Völkerwande=

[neue Seite]

rung sich wendet. Auch in Amerika ha=
be ich an verschiedenen Orten Verwandte
und Bekannte und dort, hoffe ich, wird
es mir gelingen mein Fortkommen für
mich und die Meinigen zu finden.
Mit mir wollen meine beiden im
militairpflichtigen Alter befindlichen Söhne,
als
1. Carl Friedrich Amandus Postel,
geboren den 17. Julius 1846 und
2. Rudolph Wilhelm August Postel,
geboren den 6. December 1847
auswandern und in Amerika ihren blei=
benden Aufenthalt nehmen. Die Auswan=
derung dieser meiner beiden Söhne geschieht
lediglich deshalb um mit dem Vater
und den Geschwistern in Gemeinschaft zu
bleiben, sich mit dem Vater ein besseres
Fortkommen im neuen Erdtheile zu suchen,
nicht aber deshalb um sich der Erfüllung
der Militairpflicht zu entziehen.
Wohllöblichem Magistrate sind meine
Verhältnisse, wie ich nicht zweifele, genau
bekannt und werden darnach meine

[neue Seite]

Angaben, bezüglich der mit mir erfolgen=
den Auswanderung meiner genannten
beiden Söhne Glauben finden, weshalb ich
unter gehorsamster Vorlegung der Geburts=
scheine derselben ehrerbietigst ersuche:

  geneigtest die Auswanderungs=
No3/00.
... 9/468
erlaubniß für meine Söhne be=
antragen zu wollen.
Otterndorf, den 28 März 1868.
C. Postel.

Die unterzeichnete Kreis=Ersatz=Commission hat nach
pflichtmäßiger Erwägung der vorwaltenden Umstände die
Ueberzeugung gewonnen, daß der Nachsuchung der Auswan=
derungs Erlaubniß nicht die versteckte Absicht zum Grunde
liegt, sich dadurch der Militairpflicht im stehenden Heere
zu entziehen.

  Stade und Otterndorf, den 14. April 1868.
  Die Kreis=Ersatz=Commission.
Der Militair=Vorsitzende. Der Civil=Vorsitzende.
Franckenberg ...

Wieder realisiert das performative Verb 'ersuchen' den zentralen, direktiven Sprechakt. Auch wenn der Sprecher die Erlaubniß zur Auswanderung nicht für sich beantragt, ist er kein Sprachrohr oder Stellvertreter. Er beabsichtigt auch selbst auszuwandern und handelt somit in eigenem Interesse.

Ein Interesse an den beiden im militairpflichtigen Alter befindlichen Söhnen hat auch der Staat, das angesichts der unruhigen Zeiten um das Jahr 1868 (geführte Kriege 1864 und 1866 sowie der bevorstehende 1870/71) begründet ist. Der Sprecher muss die Auswanderung, die unter diesen Voraussetzungen ein Abweichen von den gesellschaftlichen Normen darstellt, plausibilisieren. Hierfür wäre eine auf Allgemeingültigkeit beruhende Schriftsprache Mittel und Weg, die eigene Loyalität zum Sozialsystem oder Staat zu beweisen.

Folgende Devotionsformen treten auf: das Verb 'ersuchen' (lexikalische Bedeutung), die adverbialen Adjektive 'ehrerbietigst' und 'geneigtest' (lexikalische Bedeutung und Superlativ), die verbale Konstruktion 'die Auswanderungserlaubniß beantragen wollen' (ornamentaler Charakter); die attributiven Adjektive 'gehorsam' und 'wohllöblich': 'gehorsamstes Gesuch', 'unter gehorsamster Vorlegung' (lexikalische Bedeutung und Superlativ), Titulatur 'wohllöblicher Magistrat' (lexikalische Bedeutung und Ausdrucksverstärkung durch Halbpräfix 'wohl', 2-mal).

Die Devotionsformen signalisieren als Kennzeichen einer ornamentalen und gewählten Ausdrucksweise das Bemühen des Sprechers um den Angesprochenen. Gerade durch diese besondere Ausdrucksweise stellt der Sprecher allerdings seine eigene Individualität in den Vordergrund und nicht die Kollektivität der Kommunikationspartner. Die Funktion der Devotionsformen ist demnach keine standardsprachliche.

2.2.3 Ihnke Kleihauer 1875 [nach oben]

Aufgrund seiner offiziellen Ausrichtung kann auch der folgende Brief als standardsprachlich gelten:

  Beglaubigte Abschrift.
(Zum Original sind 2. Stempelmarken (10 u. 50 ...) aufs
...) ...
General-Vollmacht

Kund und zu wissen sei hier
mit, daß ich der Unterzeich[n]ete Ihnke Kleihauer,
Sohn der zu Wiesede, Amt Wittmund, Provinz
Hannover, Königreich Preushen, verstorbenen
Eheleute Ihnke Kleihauer, wohnhaft bei
Tecumseh, Grafschaft Johnson, Staat Nebraska,
Nordamerika, gebürtig aus Wiesede, Amt
Wittmund, Provinz Hannover Preushen die
Herren Y + B. Brons Banquiers zu Emden
zu meinem Bevollmächtigten ernenne und
ertheile ich hiermit denselben volle Macht und
Gewalt alle meine Angelegenheiten in Europa
zu ordnen; insbesondere ermächtige ich dieselben
[A]lle, mir von meinen verstorbenen Eltern
erbschaftlich zukommenden Gelder u.s.w. in
Empfang zu nehmen und in meinem Na=
men dafür zu bescheinigen überhaupt für mich
und in meinem Namen und zu meinem
Nutzen und Gebrauch mein sämmtliches, sich
in Europa befindliches Mobili[a]r= und Jmmobil[iar=]
Vermögen einzufordern, einzuklagen, in Empfang
zu nehmen, und darüber für mich und in mei=
nem Namen vollgültig zu quittiren; mein
sämmtliches Mobiliar= und Jmmobiliar= Ver=
mögen unter beliebigen Bedingungen und
Bedingungen Garantieen an beliebige Personen,
sei es aus der Hand oder durch öffentliche Steigerung,
zu verkaufen, in meinem Namen, Kaufbriefe
oder sonstige Urkunden zu unterschreiben und
überhaupt nach dortigen Landesgesetzen zu ver=
fahren; alle mir durch Erbschaft zufallenden
..... bereits eröffneten oder noch zu eröffnenden Verlassenschaften

[neue Seite]

Verlassenschaften anzunehmen; Schulden und Steuern
zu bezahlen, Cessionen vorzunehmen; nothwendige
Prozesse einzuleiten und entweder selbst
vor den Vermittlungskammern und Gerichten
klagend aufzutreten, oder Anwälte zu bestellen
und sie zu entschädigen, Executions = und
Zahlungs = Behelfe zu erwirken und me[in]e
Rechte in jeder Beziehung zu wahren, alle
Arten von Vergleichen abzuschließen, alle Ur=
kunden zu unterzeichnen, hypothekarische Ein=
schreibungen zu nehmen und zu löschen und
dieserhalb vor den betreffenden Bohörden die
nöthigen Erklärungen zu machen, zu appelliren,
zu substituiren, das Rechtsmittel der Cassation
zu ergreifen, überhaupt Namens ....... des
Mandanten in Verwaltung und Veräußerung
bezüglich meines jetzigen und künftigen in [Eu]ro=
pa sich befindenden Mobiliar = und Jmmobi=
liar = Vermögens all dasjenige zu thun und zu
unterlassen, was ein Special = und General = Be=
vollmächtigter nach dortigen Landesgesetzen zu
thun berechtigt ist, ausgenommen selbst dasjenige
nicht, was hierin nicht namentlich ausgedrückt
ist und sein sollte, und verspreche ich alle Handlun=
gen, welche der Bevollmächtigte kraft des Gegen=
wärtigen entweder selbst oder durch Substituten
vornehmen, so anzuseh[n], als wäre dieselben
von mir dem Mandanten selbst vorgenom=
men worden, auch derselbe für Berechnung und
Auslagen zu entschädigen. Zugleich ersuche und be=
auftrage ich Bevollmächtigte alle mir aus Deutsch=
land zukommenden Gelder durch Vermittelung
der Herren Y + B. Brons, Emden an die
Herren H. Claushenius + Co, in Chicago, zu
senden und mich, wenn solches geschehen, sofort

[neue Seite]

sofort davon in Kenntniß zu setzen.

Urkundlich meiner eigenhändigen Unterschrift
...... sowie der von den geeigneten Be=
hörden beigesetzten Instisicationen.

So gegegeben zu Nebraska City, Grafschaft Otoe,
im Staate Nebraska, Nordamerika, am
dritten (3 ten) März A.D. 1875

Unterzeichnet in (gez) Ihnke Kleihauer
Gegenwart von:
(gez) G. Ernst
(gez) B. D. Ashton.
  Ver. Staaten von Nord= Amerika.
Staat Nebraska
Otoe County.

Vor mir dem Unterzeichneten B. D. Ashton
öffentlicher Notar in und für die Grafschaft
Otoe wohnhaft zu Nebraska City in der
Grafschaft Otoe und dem Staate Nebraska
erschien heute am 3 ten Tage des Monats Maerz
im Jahre Eintausend Achthundert fünf und
siebenzig der mir als dispositionsfähig
persönlich bekannte Ihnke Kleihauer,
welcher in meinem Beisein die umstehende Voll=
macht unterzeichnete und vor mir anerkannte,
daß dieselbe für die darin genannten Zwecke
freiwillig unterzeichnet und ausgefertigt sei.
Urkundlich meiner eigenhändigen Unterschrift
und beigedrucktem Amtssiegel am 3 ten März 1875

L.S.
(gez) B. D. Ashton
Notary Public
Otoe County Nebr.
Gesehen

[neue Seite]

Gesehen im Kaiserlich Deutschen Consulat
zu Chicago zur Beglaubigung der anderseitig
vorstehenden Unterschrift des Herrn B. D. Ashton,
gesetzlich bestellter öffentlicher Notar zu Ne=
braska City, Staat Nebraska

Nr 5362        
Rth 7.50 = $ 2
pos. 20. de Tar
L.S.
Chicago, den 6 März 1875
der Kaiserliche Consul
(gez) H. Claushenius
Obige Abschrift stimmt wört=
lich mit dem mir vorliegenden
Original.
  Emden, den Sechszehnten December,
Achtzehnhundert fünf und Siebenzig.
... Heinrich Lorentz
Königlich Preuß: Notar.

Devotionsformen enthält dieser Brief nicht, außer das performative Verb 'ersuchen'. Das Syntagma 'ich ersuche und beauftrage' realisiert einen direktiven Sprechakt. Da das performative Verb 'beauftragen' eher eine sprecherseitige Dominanz signalisiert, wird die durch 'ersuchen' transportierte Devotion hier neutralisiert.

Der zentrale Sprechakt dieses Briefes ist der deklarative Sprechakt:

"Deklarative sind weltschaffende Sprechakte: Sie schaffen einen Weltzustand, indem sie ihn sprachlich für existent erklären; allerdings können sie nur bestimmte Arten von Welt, z. B. soziale Beziehungen, schaffen. Ihre Illokution ist definiert durch den Anspruch, daß qua Äußerung etwas wahr gemacht werden soll. Gelingen sie, so ist mit der Äußerung der Anspruch gesetzt und auch erfüllt. Ein Stück Welt ist qua Äußerung geschaffen und in der Regel schweigend vom Hörer angenommen ..." (WEIGAND 1989, 84)

Die performativen Verben 'ernennen', 'ertheilen', 'ermächtigen' und 'versprechen' realisieren deklarative Sprechakte. Die weltschaffende Botschaft kommt zwar durch die Äußerung eines Sprechers erst zustande, darüber hinaus treten die Kommunikationsteilnehmer hinter den Wahrheitsanspruch zurück:

"Geht man von einem natürlichen Sprachbegriff aus, so gibt es Wahrheit nur als pragmatische Wahrheit, aus der Sicht des Sprechers. Das, was einen Aussagesatz zur Äußerung macht, ist der pragmatische Wahrheitsanspruch, den der Sprecher mit der Äußerung dieses Satzes verbindet ... Der pragmatische Wahrheitsanspruch korreliert mit dem Begriff der Verständigung: Wir verständigen uns über den im illokutiven Sprechakt gesetzten pragmatischen Wahrheitsanspruch." (WEIGAND 1989, 28)

Mit dem deklarativen Sprechakt erklärt der Sprecher bestimmte Umstände in der Wirklichkeit als gegeben, ohne dass er den Dialog als sprachlich-kommunikative Interaktion mit dem Angesprochenen anstrebt.

Das Syntagma 'insbesondere ermächtige ich dieselben' realisiert einen deklarativen Sprechakt. In einem Satzgefüge fungiert es als Hauptsatz, an den zahlreiche Infinitivgruppen in Nebensatzfunktion (Infinitivsätze) angeschlossen sind. Jeder Infinitiv repräsentiert hierbei jeweils eine der Handlungen, die ausgeführt werden können: 'in Empfang zu nehmen', 'zu bescheinigen', 'einzufordern', 'einzuklagen', 'zu quittieren', 'zu verkaufen', 'zu unterschreiben', 'in meinem Namen zu verfahren', 'Verlassenschaften anzunehmen', 'zu bezahlen', 'Cessionen vorzunehmen', 'Prozesse einzuleiten', 'klagend aufzutreten', 'Anwälte zu bestellen', 'zu entschädigen', 'Executions = und Zahlungs = Behelfe zu erwirken', 'meine Rechte zu wahren', 'Vergleiche abzuschließen', 'zu unterzeichnen', 'hypothekarische Einschreibungen zu nehmen und zu löschen', 'Erklärungen zu machen', 'zu appeliren', 'zu substituiren', 'das Rechtsmittel der Cassation zu ergreifen', 'all dasjenige zu thun und zu unterlassen, was ein Special = und General = Bevollmächtigter zu thun berechtigt ist'.

"Sätze - als Normalfälle kommunikativer Minimaleinheiten ... - lassen sich nun zunächst genauso definieren, nämlich als isolierbare Einheiten der Kommunikation, die eine erkennbare Illokution aufweisen. Was an ihnen primär interessiert und sich sowohl materiell als auch inhaltlich bestimmen lässt, ist ihr Aufbau aus kleineren Teilen: Sätze sind komplexe Zeichen, deren Konstitution die Sprecher auf- und die Hörer abbauen, um zu signalisieren bzw. herauszufinden, welche Bedeutung die einzelnen Teile haben, damit sie in der Kommunikation spezielle Zwecke erfüllen können." (EROMS 2000, 99)

Betrachtet man das syntagmatische Ausmaß des eben vorgestellten Satzgefüges, wird deutlich, dass eine kommunikative Minimaleinheit enormen Raum einnehmen kann. Die erkennbare Illokution dieser isolierbaren Einheit der Kommunikation ist hier der deklarative Sprechakt.

"Es kann davon ausgegangen werden, dass die Sätze eine Illokution aufweisen, also eine oberste Einordnungsklasse zeigen, aber es wäre verfehlt, anzunehmen, dass es bei der Bildung und Analyse von Sätzen nur darauf ankäme, die jeweilige Illokution und nur diese herauszufinden. Jedes Element, das syntaktisch gebunden ist, ist auch syntaktisch wichtig und kann etwa im weiteren Textverlauf durch Fortführung, Wiederaufnahme oder Korrektur aktiviert werden und damit in neuen Sätzen eine Rolle spielen. Ein Text ist keine bloße Addition, keine Summe von Illokutionen, sondern eine Verkettung von Sätzen, die ganz unterschiedliches Material enthalten." (EROMS 2000, 99)

Die zentrale Illokution des Textes manifestiert sich durch den Deklarativ 'Kund und zu wissen sei hier mit'. Dieser selbstständige Teilsatz bestimmt die Illokution der Syntagmen, die von ihm abhängen. Das durch die große Anzahl von Infinitivkonstruktionen gekennzeichnete Satzgefüge steht hierbei als umfangreichster syntaktischer Komplex in der Mitte zwischen zwei weiteren Deklarative realisierenden Konstrukten. Davor ist ein Teilsatz mit dem performativen Verb 'ernennen' sowie ein Satzgefüge mit dem performativen Verb 'ertheilen' platziert, danach ein Satzgefüge mit dem performativen Verb 'versprechen'.

3 Auswandererbriefe [nach oben]

Keine regelkonforme Sprache bieten die meisten der 37 privaten Auswandererbriefe des Korpus.

3.1 Alte Welt vs. Neue Welt [nach oben]

"Die Briefe von Auswanderern stellen den größten Teil der Sammlung privater Korrespondenz; dies hat seinen Grund darin, daß die Schreibmotivation der Emigranten besonders ausgeprägt ist. In den Briefen spielt die gesellschaftliche Konvention keine Rolle, auch geht es den Schreibern nicht um die Profilierung der eigenen Person. Die Texte sind einerseits Ausdruck der existentiellen Not (Heimweh, Alleinsein, ökonomische Probleme) in einer völlig fremden und auch fremdsprachlichen Umgebung, andererseits dokumentieren sie die Angst der Verfasser, fern der Heimat in Vergessenheit zu geraten. Der Brief bleibt ihnen als einzige Kontaktmöglichkeit, und das Schreiben baut sich nicht mehr zu einer prestigeträchtigen, Schreibangst verursachenden Barriere auf. Indem sich die Schreiber nolens volens über fixierte Sprachnormen hinwegsetzen, gewinnen sie eine eigene sprachliche und menschliche Souveränität!" (GROSSE/GRIMBERG/HÖLSCHER/KARWEICK 1989, 121)

Die gesellschaftliche Konvention, die in den Auswandererbriefen keine Rolle spielt, ist das Normen- und Wertesystem in Deutschland, das in Amerika keine Geltung hat. Da auch die Sprachnormen in Amerika nicht verbindlich sind, braucht sich der Auswanderer nicht daran zu halten, auch wenn er auf Deutsch schreibt.

Die eigene sprachliche und menschliche Souveränität des Auswanderers entwickelt sich fast zwangsläufig durch die neue sprachkulturelle Umgebung. Die Notwendigkeit, sich an die neuen sprachkulturellen Gegebenheiten anzupassen, zieht eine Neubewertung des zurückgelassenen sozialen und sprachlichen Systems nach sich. Der Auswanderer kann die sprachkulturellen Strukturen, in denen er aufgewachsen ist und die seine Persönlichkeit geprägt haben, aus der Entfernung mit neuen Augen betrachten und neu einschätzen. Wenn der Auswanderer dann über Briefe in Kontakt tritt mit der sprachlichen und außersprachlichen Wirklichkeit seiner Vergangenheit, kann er entscheiden, inwieweit er den Anforderungen der 'Alten Welt' noch entsprechen will. Die 'Neue Welt' ist also semantisiert durch die Freiheit des Auswanderers, bestimmte sprachkulturelle Normen und Werte außer Acht zu lassen.

3.2 distanzsprachlich vs. nähesprachlich [nach oben]

"Die Varietätenwahl gehört wie der Duktus bzw. die Modalität von Äußerungen zu ihrer Konzeption, die eher nähesprachlich oder eher distanzsprachlich sein kann. Die gesprochene oder geschriebene Realisierung der Äußerungen ist dabei nachrangig. Ausprägungen konzeptioneller Mündlichkeit bzw. einer Sprache der Nähe finden sich deswegen gleichermaßen in (gesprochenen) Alltagsdialogen wie auch in (geschriebenen) Privatbriefen." (ELSPASS/DENKLER 2003, 134)

Charakteristika unmittelbarer Kommunikation haben mit dem Briefeschreiben Einzug in die Schriftlichkeit gehalten. Mündlichkeit ist nicht mehr an das Sprechen gebunden. Die sprachlichen Mittel der ursprünglich mündlichen Kommunikation sind die 'nähesprachlichen' Elemente, die sprachlichen Mittel der ursprünglich schriftlichen Kommunikation sind die 'distanzsprachlichen' Elemente.

3.3 Distanz vs. Nähe in der sprachlichen Wirklichkeit [nach oben]

'Distanz' vs. 'Nähe' in Äußerungen ergibt sich aus der kommunikativen Haltung, die der Sprecher im Äußerungsprozess gegenüber dem Angesprochenen einnimmt. Diese auf das Phänomen Sprache bezogenen Begriffe haben demnach Geltung in der sprachlichen Wirklichkeit und sollen diese beschreiben. 'Distanz' vs. 'Nähe' beziehen sich hier also nicht auf die Verortung der Kommunikationsteilnehmer in der materiellen Welt. Wollte man diese Begriffe für die außersprachliche Wirklichkeit anwenden, wäre aufgrund der räumlichen Trennung der Kommunikationspartner ohnehin nur von Distanz auszugehen.

Die Tatsache, dass sich die Kommunikationsteilnehmer der Auswandererbriefe materiell nicht nah sind, wirft ein neues Licht auf die Kommunikation an sich. Die materiellen Voraussetzungen schließen die unmittelbare gegenseitige Beeinflussung der Kommunikationspartner aus, da die Äußerung nicht im Rahmen einer unmittelbaren kommunikativen Interaktion entsteht. Der Angesprochene ist an der Formulierung der Äußerung nicht beteiligt, wie es bei einem Visavis der Kommunikationsteilnehmer gegeben wäre: Durch Rückmeldesignale würde er auf die Äußerungen des Sprechers einwirken können und diese mitgestalten. Da sich die Kommunikationsteilnehmer nicht unmittelbar gegenüberstehen, sondern materiell voneinander getrennt sind, muss der Sprecher in der Kommunikation den Angesprochenen mithilfe der Vorstellungskraft imaginieren. In der sprachlichen Wirklichkeit der Auswandererbriefe ist der Angesprochene somit Teil des Sprechers selbst.

Die Tatsache, dass der Sprecher nicht mit dem Angesprochenen selbst, sondern mit einer Vorstellung des Angesprochenen kommuniziert, verleiht der Äußerung einen neuen Stellenwert. Die Äußerung ist nicht mehr das Ergebnis der Interaktion von Sprecher und Angesprochenem als Ausdruck von Kollektivität, sondern das Ergebnis der Selbstreflexion des Sprechers als Ausdruck von Individualität. Hierdurch kehrt sich die kommunikative Bedeutung von 'Distanz' vs. 'Nähe' gleichsam um. Dialog fördernde Äußerungen wie Aufforderungen oder Fragen, im unmittelbaren Gespräch Signale für 'Nähe', weisen nun auf die 'Distanz' von Sprecher und Angesprochenem hin, da ein unmittelbares Gespräch nicht stattfinden kann.

Die Auswandererbriefe spiegeln inhaltlich die Polarität 'Amerika' vs. 'Deutschland' wider, die den Kommunikationspartnern in der materiellen Welt unterschiedliche Orte zuweist. Dieser die Kommunikationsteilnehmer unmittelbar betreffende Unterschied ist tatsächlich der häufigste Gesichtspunkt, der in den Briefen thematisiert wird. Es wird sich zeigen, dass je nach thematisiertem Komplement 'Amerika' vs. 'Deutschland' entweder die sprachlichen Elemente der 'Distanz' oder aber der 'Nähe' vorherrschend sind.

3.3.1 Sprecher über Amerika [nach oben]

Thematisieren die Auswanderer ihre neue Heimat Amerika, geschieht dies zumeist über Aussagesätze im Indikativ Präsens:

Pittsburg, 26te Octbr 1856.:
... Hier in Amerika ist dies ganz anders, da kann
treiben was man will, worauf man denkt am besten auszumachen,
daß treibt man. Es ist aber auch wieder ein eignes Leben hier, geht es schlecht,
so kümmert sich niemand um einen, hat man da nicht nahe Verwandte

Der Indikativ Präsens hat keine komplexen morphosyntaktischen Formen. Dieses formale Kennzeichen für Mündlichkeit und Nähesprachlichkeit korreliert mit der kommunikativen Haltung des Sprechers. Er beschreibt persönliche Wahrnehmungen, ohne eine Stellungnahme des Angesprochenen zu erwarten, wodurch die Trennung der Kommunikationsteilnehmer in 'Sprecher' vs. 'Angesprochener' überwunden wird. Die Annäherung der Kommunikationsteilnehmer wird hier also durch die Aufhebung der kommunikationsbezogenen Rollen erreicht.

Holsten 1 Feb.:
... denn sind hier sogut
Christliche Prediger wie in Deutschland
und kann Alles so gut genießen wie da in
Otterndorf ...
...
Freilich ist hier Augenblicklich
fürchterliche Zeiten, viele große
Geschäfte falliren, ganz alte
Leute wissen sich nicht solche
Zeiten zu erinnern, Tausende
von Menschen außer Verdienst

Die Thematisierung der außersprachlichen Wirklichkeit vollzieht sich oftmals durch den Vergleich von 'Alter Welt' vs. 'Neuer Welt'. Als nähesprachliches Element erreicht der Indikativ Präsens die größtmögliche Übereinstimmung zwischen der Äußerung des Sprechers und dem durch sie vermittelten Wahrheitsanspruch des Sprechers.

Albert Hillers 30.11.1857:
... die aussichten sind hier viel besser als in Deut[schland]
...
... Essen und Trinken ist hier viel bes[ser]
speck und Fleisch Mehl es ist hier alles billig zu ka[ufen]

Albert Hillers 16.01.1859:
... es gefält uns hier sehr
gut wier sehen doch ein das wier unser Leben hier besser machen können als in
Deuschland ...

Albert Hillers 18.04.1861:
ihr könt euer leben hier viel leichter
Machen wie in Deuschland es ist hier
eine gesunde Gegend ...

Äußerungen wie 'die aussichten sind hier viel besser als in Deutschland', 'Essen und Trinken ist hier viel besser' oder 'ihr könt euer leben hier viel leichter Machen wie in Deuschland' sind Behauptungen:

"Behauptende Sprechakte sind Sprechakte, bei denen ein Wahrheitsanspruch vorgebracht wird, der nicht unmittelbar einsichtig ist, der, sofern der Kommunikationspartner es wünscht, zu begründen wäre ... [D]er Sprecher will seine Weltsicht vom Kommunikationspartner akzeptiert sehen. Der Kommunikationspartner akzeptiert dabei in der Regel nicht auf der Basis bloßen Glaubens, sondern er akzeptiert die Gründe für den Wahrheitsanspruch, das heißt, u. U. muß derjenige, der die Behauptung vorbringt, erst die Gründe dafür in einem Verständigungsdiskurs (Argumentationsdiskurs) darlegen, bevor der Kommunikationspartner der Behauptung zustimmt ..." (WEIGAND 1989, 116 - 117)

Die Nähesprachlichkeit der Behauptungen ergibt sich nicht daraus, ob sie die Zustimmung beider Kommunikationsteilnehmer finden oder nicht, sondern wieder daraus, dass sie nicht auf eine Beantwortung ausgerichtet sind.

Johann Wilkens 07.11.1874:
wer sein Brod verdienen nuß u ist gesund
der kann es hir Reichliger haben als
bei euch und dabei kann sich hir besser
was ersparren ...
...
... in viehle andern Staten so wie
sie hir Schreben in Narichten haben
sie viel Schaden gelitten von heuschreck[en]

Johann Wilkens 10.12.1874:
Aber sind viele die nicht Arbeiten und verzerren
ihr Geld in Monath 10 bis 12 Dular für Kost
aber die wollen nicht anders die hir Arbeiten
Will kan hir jmer Arbeit kriegen
wenn die ein zeit nicht so viel verdin[t]
die ander zeit verdint wieder mehr

Johann Wilkens 20.04.1875:
... Ich freue mich das ichhir
bin ...
...
... hir sind
mit unter welche die es hir nicht gefelt

Johann Wilkens 08.12.1878:
... hir sind wohl
schlegte zeiten jetz um Geld zu machen
...
... hir giebt
es viel fieber im Herbst ...

Johann Wilkens 23.07.1879:
... jeder kan schreiben was er will
nach Deuschland Lügen u auch warheit
...
... nach 14 Tag ode[r]
Dreiwochen müßen wir noch jmer
schrecken haben für die Heuschr=
ecken das die uns Runnirren ...
...
... ich will euch jetz
nicht dazu Rathten das ihr nach
Amerika komt ...

Johann Wilkens 11.12.1880:
... er kan
einjge zeit so viel Land kaufen er wie
er nun haben will über all so weit ich bekan
bin in Amerika in Alten gegend ist
das Land höher wie hir ...

Johann Wilkens 23.11.1883:
... wir haben hir nichts zu
klagen wen man Gesund ist es ist
hir viel besser als in Deuschland

Johann Wilkens 06.02.1884:
... Ich bin froh das
ich Ausgewandert bin ...
...
... So lang wie ich in Amerika bin habe
ich noch kein Mangel gehabt an Lebenmitt[el]

Meta Mannott 22.07.1895:
... Ich habe reichlich
Nahrung und Kleidung und kann auch den Bedürf=
tigen helfen ...
... In meinem Garten
giebts Bohnen, Erbsen, Kohl, Wurzeln, Äpfel,
[B]irnen, Kirschen, Pflaumen, Pfirsichen und Wein=
trauben in Hülle und Fülle. Auch ist an Kar=
toffeln kein Mangel.

Ihnke Kleihauer 20.12.1857:
... hier
kan man bisweilen wohl ein viertel oder halbe Stunde
laufen, das man ein Haus antriefft, in das Land, es giebt
darum auch Städte genug wo viele Menschen darin sind.
Häuser sind hier im Lande nicht groß, aber das gebrauchen
sie auch nicht, weil h[ie]r das Vieh im Winter sowohl als
im Sommer drausen geht. Das Land ist hier sehr gut, es
braucht man nicht zu Düngern, wen es nur gepflügt wird,
wächt alles darin was gesähet oder gepflanzt wird,
Abgaben braucht man hier nicht viel bezahlen.

Ihnke Kleihauer 27.02.1858:
... Geliebte Eltern, in mein[en]
letzte Brief habe ich Geschrieben, ich täte lieber
sehen das Ihr zümier kommen täten, darum
muß ein ieder es doch selbst wissen, ich wiel
keinner nötigen, weil es schon mehr mahlen
pasiert ist, das eine den andern genötiget hat
zukommen, und [e]s nicht gleich in ein Schönes
Haus ziehen können, so als sies verlassen habe,
und dazu zuweilen ein oder ander auch noch
Krank wierd, gefelts Ihnen nicht, und Ver=
fluchen dieienigen die Ihr Geschrieben habt,
und das verlange ich von keinner, darum will
ich niemant davon abraten zukommen, weil es
für meinen theil doch weit besser ist als
in Deutschland ...
...
... und weil es mier hier besser gefelt
als da, täte ich hier lieber Bleiben ...

Ihnke Kleihauer 05.05.1859:
... wenn hir das Land gebaut
wird, kann man einige Früchte Sähen und Pflanzen,
und überhaubt [d]as Essen und Trinken, kann man hir
viel besser haben als dort, das ist noch die haubt sacht
was der Mensch haben kann, wenn Ihr Euch entschließen
können, mier nach zukommen, das währe mier viel lieber.
Gesundheit kann ich Euch nicht versprechen, das es aber
ungesund ist, kann ich nicht über klagen, ich bin in 2½
Jahr nicht mehr krank gewesen, und im überrichen
können wir hir besser Leben als dort ...
...
... und wenn es wirklich nicht besser sein solte für
Euch Geliebte Eltern, dan ist es noch besser für uns
Kinder ...

Die Äußerungen, in denen der Konjunktiv II verwendet wird, deuten auf einen Konflikt: 'ich täte lieber sehen das Ihr zümier kommen täten', 'weil es mier hier besser gefelt als da, täte ich hier lieber Bleiben', 'wenn Ihr Euch entschließen können, mier nach zukommen, das währe mier viel lieber', 'wenn es wirklich nicht besser sein solte für Euch Geliebte Eltern, dan ist es noch besser für uns Kinder'.

"Der Begriff Konflikt kann definiert werden als Diskrepanzen bei mindestens zwei Personen in bezug auf Sachverhalte, von denen man glaubt, man könne Übereinstimmung erwarten. Diese Diskrepanzen können sich beziehen auf Situationseinschätzung, Rollenverständnis etc. ... Diskrepanzen sind nur eine Voraussetzung für Konflikt. Eine zweite Voraussetzung ist die Art der Bezogenheit der Personen aufeinander, die die diskrepanten Standpunkte vertreten ... Zwischen einander fernstehenden Personen mag es Diskrepanzen geben, aber nicht notwendigerweise auch Konflikte. Ein aktualisierter Konflikt kann abgebaut werden: entweder durch Abbau der Diskrepanzen oder durch Abbau der Aufeinanderbezogenheit." (SCHANK/SCHWITALLA 1987, 25)

Die Sprecher-Angesprochener-Konstellation stellt sich als Eltern-Kind-Beziehung dar, die aufgrund der Auswanderung nur durch den Schriftverkehr fortbesteht. Wie die Aufeinanderbezogenheit beschränken sich Diskrepanzen auf die sprachliche Wirklichkeit.

"Soziales Handeln vollzieht sich auf der Basis sozialer Rollen, die als Bündel von Verhaltensnormen und Verhaltenserwartungen definiert werden können ... Es vollzieht sich nur dann harmonisch, wenn sich die gegenseitigen Rollenauffassungen weitgehend decken, sonst entstehen aufgrund diskrepanter Erwartungen Rollenkonflikte." (SCHANK/SCHWITALLA 1987, 27)

Seine Rolle in der Eltern-Kind-Beziehung ist dem Sprecher durchaus bewusst. Die Auswanderung an sich stellt einen Verstoß gegen die Verhaltensnormen und Verhaltenserwartungen dar, wenn das betreffende Kollektiv erwartet, dass ein Kind auch im Erwachsenenalter bei seinen Eltern ist.

"Kooperativität ist die grundlegende Voraussetzung für Verständigung im Gespräch und ggf. für eine positive Konfliktaustragung. Sie sichert die Nicht-Verletzung der Basisregeln des Gesprächs, insbesondere die Befolgung der Reziprozitätsforderung. Kooperativ sein heißt, sich verstehen wollen, sich guten Willen unterstellen, sich ernst nehmen, ein für beide positives Ziel erarbeiten wollen." (SCHANK/SCHWITALLA 1987, 31)

"[K]ooperativ handeln heißt, daß alle Teilnehmer sich bemühen, den  k o l l e k t i v  maximalen Gewinn zu erzielen, selbst wenn dieser für den einzelnen u. U. niedriger ist als ein individuell maximaler Gewinn, der nur durch einseitig unkooperatives Handeln zuungunsten der anderen Teilnehmer zu erreichen wäre." (SCHANK/SCHWITALLA 1987, 21 - 22)

Der Austritt aus dem alten Kollektiv und der Eintritt in ein neues Kollektiv produziert Konflikte, die eine Folge der Anpassung des Individuums an die neuen Normen und Werte sind. Das bewusste Formulieren im Konjunktiv II ist Ausdruck der Kooperativität als der Bereitschaft zu einer positiven Konfliktaustragung. Distanzsprachlichkeit dient so dem Anpassungsprozess, den der Auswanderer in der Neuen Welt vollziehen muss und der mit der Ablösung von der Alten Welt einhergeht. Das distanzsprachliche Element des Konjunktivs II wird hier demnach zur gleichzeitigen Thematisierung beider Komplemente der Polarität 'Amerika' vs. 'Deutschland' eingesetzt sowie zu der Thematisierung der diesbezüglichen topologischen Trennung und deren Auswirkung auf die Kommunikationsteilnehmer.

Ihnke Kleihauer 27.11.1860:
Die Ernte ist hier in dieser Gegend sehr
gut geraten, so das Schweine genug fät
gemacht werden können, u wenn die
g[e]legenheit so gut wehre als nicht
täten meine Schwagern Euch 2 oder 3
stäck fätte Schweine Schicken, die das
stück 2 bis 300 ... wiegen ...
...
... u wenn Ihr alle hier
währen, haben Sie noch Speck genug für
Euc[h] zu Essen ...

Ihnke Kleihauer 21.09.1861:
... ich bin noch 2 zol in
Amerika größer geworden, u dabei auch so zienlich
dick u stark, ich glaube wen ich noch wieder bei
Schwager Behrends in die Schule gehen täte, dan
währe ich vieleicht sein meister im prügeln, weil hier
die [S]chläge anders ausgetheil werden, als bei Euch,
...
... Mit den Krieg siehts hier nicht
vom besten aus, so wie die es in die st zeitung steht,
sind schon 200.000 Mann in Wassingtan unter
Gewehr u Waffen vom Norden, und wieviel Süde[r]s
kann ich nicht sagen, ich glaube aber doch, das Norden,
Süden gewa[c]hsen ist, hier im Norden wierd keiner geschwun[=]
gen weil sie genug freiwiellig kriegen können, u brau=
c[he]n noch kein gefahr zu haben, das wir hinters
Kalbfell her marschiren müssen ...

Über den Konjunktiv II thematisiert der Sprecher die räumliche Trennung der Kommunikationsteilnehmer, die eine Interaktion in der außersprachlichen Wirklichkeit nicht ermöglicht: 'wenn die gelegenheit so gut wehre als nicht täten meine Schwagern Euch 2 oder 3 stäck fätte Schweine Schicken', 'wenn Ihr alle hier währen, haben Sie noch Speck genug für Euch zu Essen', 'wen ich noch wieder bei Schwager Behrends in die Schule gehen täte, dan währe ich vieleicht sein meister im prügeln'. In der sprachlichen Wirklichkeit konnte die Distanz zwischen den Kommunikationsteilnehmern durch die Potenzialität des Konjunktivs II überwunden werden.

Die Thematisierung Amerikas vollzieht sich überwiegend durch nähesprachliche Elemente:

Beide Komplemente der Polarität 'Amerika' vs. 'Deutschland' sind gleichermaßen betroffen, wenn die topologische Trennung in ihrer Bedeutung für die Kommunikationsteilnehmer und deren Kollektive durch das distanzsprachliche Element des Konjunktivs II thematisiert wird.

3.3.2 Sprecher über Deutschland [nach oben]

Pittsburg, 26te Octbr 1856.:
... Ich wäre nicht hier in Amerika, hätte der Vater besser
für uns gesorgt, denn daß werdet Ihr selbst einsehn, hätte ich draußen mich
etabliren wollen, so wäre mein Geld darauf gegangen ...
...
denn wie Ihr wohl wüßt, ist ja mit der Büchsenmacherei nicht mehr
daß was Sie war, und sind auch schon zu viel Büchsenmacher dort.
Was wäre mir nun übrig geblieben, ein ander Geschäft kann man ja drau=
ßen nicht betreiben, außer was man gelernt hat, und da machen Sie
einen viel zu schaffen, daß man dies noch kann, somit wäre mir dann
nichts übrig geblieben, als zu taglöhnern, und dazu hätte ich mich doch nicht
entschließen können ...

"Die Schreibperspektive der Privattexte ist die jeweils individuelle Sichtweise des Verfassers, d. h. die Perspektive der persönlichen Betroffenheit." (SCHIKORSKY 1990, 91)

Der Sprecher bestimmt den Ort Deutschland über das Lokaladverb 'draußen', wodurch seine eigene Verortung in 'Amerika' vs. 'Deutschland' thematisiert wird.

"Versucht man, das Gemeinsame von Privattexten auf der Ebene der semantischen Struktur zu beschreiben, so läßt sich dies am besten durch den Begriff autobiographisch fassen. Die thematische Leitlinie ist die eigene Biographie, d. h. es werden Gegenstände und Sachverhalte dargestellt, die in einem direkten Zusammenhang mit der Lebenssituation und dem Lebensumfeld des Verfassers stehen." (SCHIKORSKY 1990, 91)

Die Mutmaßungen über den beruflichen Werdegang beziehen sich autobiographisch auf eine Lebenssituation, die durch die Auswanderung aus dem entsprechenden Lebensumfeld abgewendet werden konnte. Die Irrealität oder Potenzialität der Äußerungen wird durch das distanzsprachliche Element des Konjunktivs II zum Ausdruck gebracht.

Johann Wilkens 10.12.1874:
Ferner ich habe euch in den letzen Brief
g[e]schrieben ob ihr nicht so gut sein wolt
und erkundigen euch bei den Bezirkweld
webel ob ich jetz wohl von Militär frei
komen kan one das ich nach der Kunsel
hin Brauche das möchte ich gerne recht
bald wissen ...

"Fragehandlungen sind welterkundende Sprechakte. Die Welt ist für den Sprecher nicht vollständig, ihm fehlt Wissen über die Welt. Daher kann es für ihn auch keine Anpassung zwischen Sprache und Welt geben." (WEIGAND 1989, 90)

Die Syntagmen 'ob ihr nicht so gut sein wolt' sowie 'ob ich jetz wohl von Militär frei komen kan' realisieren explorative Sprechakte, d. h. Fragen als sprachliches Handeln mit expliziter Ausrichtung auf einen Kommunikationspartner:

"Ein Wahrheitsanspruch kann erst erhoben werden, wenn für einen Weltausschnitt Wissen gegeben ist. Der Wissensanspruch definiert Fragehandlungen, die ich EXPLORATIVE nenne. Fragehandlungen zielen auf einen perlokutiven Sprechakt des ANTWORTENs (RESPONSIVE), der den Wissensanspruch erfüllen soll." (WEIGAND 1989, 87)

Im Beispiel sind die Explorative Paraphrasen früherer Äußerungen des Sprechers. Das Syntagma 'ich habe euch in den letzen Brief geschrieben ob ...' setzt zwei verschiedene Briefe morphosyntaktisch in Beziehung und wird dadurch ein Mittel der Kohäsion:

"[D]ie Kohäsion [bezieht sich] auf Elemente der Text-Oberflächenstruktur, d. h. auf die grammatischen Abhängigkeiten des Textes. Kohäsion meint damit alle formalen Mittel, die Beziehungen zwischen Oberflächenelementen signalisieren. Diese Mittel können vielfältig sein. Es handelt sich dabei sowohl um grammatische Kongruenz (also die Übereinstimmung in Person, Zahl und Zeit), Tempus, Aspekt u. a. m. als auch um Zusammenhänge über weite Entfernungen hin wie Wortwiederholungen, Umschreibungen u. dgl., die als Rekurrenz (Wiederholung) und Paraphrase (Umschreibung) bezeichnet werden." (ERNST 2002, 160)

Die Kohäsion nicht innerhalb eines Einzeltextes, sondern zwischen mehreren Texten hat zur Voraussetzung die Intertextualität:

"Die Intertextualität betrifft die Faktoren, die die Verwendung eines Textes, seine Produktion und Integration vom Wissen der Kommunikationsteilnehmer über einen oder mehrere vorher aufgenommene Texte abhängig machen ... [D]ie Intertextualität verknüpft Texte miteinander, aber nicht über irgendeine immanente Sprachstruktur, sondern über die Kommunikationsteilnehmer." (ERNST 2002, 162)

Das bedeutet, dass die Kommunikationsteilnehmer die Kohäsion zwischen mehreren Briefen nur dann nachvollziehen können, wenn sie die betreffenden Briefe auch gelesen haben. Erst so ergibt sich zwischen den Briefen auch die Kohärenz:

"Mit der Kohärenz wird der semantische und pragmatische Zusammenhang eines Textes bezeichnet. Grundlage der Kohärenz ist die Sinnkontinuität innerhalb des Wissens, das durch bestimmte Ausdrücke des Textes aktiviert wird ... Es kann aber auch vorkommen, dass im Text nicht genügend Informationen geboten werden, um die Kohärenz zu gewährleisten. In diesem Fall greift der Rezipient auf anwendbare Konzepte und Relationen aus seinem Weltwissen zurück und wendet sie auf die Situation an. Dieser Vorgang wird  I n f e r e n z z i e h u n g  genannt ..." (ERNST 2002, 160)

Johann Wilkens 20.04.1875:
... wen wir so über Deuschland
sprechen wie da es nun ist den sagt er
er denkt die alte Heimath bald mahl wiede[r]
zu sehn ...
...
... ich hätte mich das unmöchlich ve[rd]inen
könen in Deuschland was ich b mich in
diese zeit Verdint habe ...

Eine Inferenzziehung aus Informationen zu Verdienstmöglichkeiten wäre beim Syntagma 'ich hätte mich das unmöchlich verdinen könen in Deuschland' durchzuführen. Das hierfür benötigte Weltwissen setzt sich aus verschiedenen Wissenseinheiten oder Rahmen zusammen:

"Ein Rahmen ist eine Art Wissensausschnitt, der abgerufen wird, um eine Inferenzbasis für das Verständnis einer Äußerung zu gewinnen." (ERNST 2002, 112)

"Sprachliche Verständigung ist ... weit mehr anspielen, d. h. virtuoser Umgang mit wechselseitig vorausgesetzten Wissensbeständen, als es meist vermutet wird. Vorhandenes Wissen wird so als Brücke verwendet, um Verständigung zu erzielen, aber auch, um neues Wissen durch die Integration in vorhandene Muster in das eigene Weltwissen einzubauen. Eine solche an Mustern orientierte Weltwahrnehmung ... ist notwendig, um die Komplexität der einströmenden Wahrnehmungen zu bewältigen ... Da die Wirklichkeit in eine nicht quantifizierbare Vielfalt von Aspekten zerfällt, bedarf es des Bezugs auf vorausgesetztes Wissen, d. h. der Mitteilung nur von Anhaltspunkten für tiefgreifendere Inferenzziehungen ..., um sprachliche Verständigung in unserer komplexen Umwelt überhaupt möglich zu machen." (BUSSE 1992, 90)

Johann Wilkens 23.07.1879:
das ist nicht so wie ich wohl all
gehört habe als ich noch bei euch war
jeder muß gut Prahlen über
[A]merika sonst würde er bestraft
das ist all nichts ...

Johann Wilkens 11.12.1880:
... den möchte ich gerne wissen
wie es mit die Cnahl ist die Breitte u
Tieffe u war sie gnau lang geht u wie
weit sie sind mit die Arbeit ...

Johann Wilkens 02.06.1882:
schreibe ob August sein Sohn auch all
Soldat werden muß es werde doch
vor ihn hir viel Besser wen er auch
kein Soldat werden Brauht wen ich in
sein platz war Ich Tätte den weg ganß
gewiß finden Nach Amerika

Das Syntagma 'den möchte ich gerne wissen wie es mit die Cnahl ist' realisiert einen explorativen Sprechakt. Das Syntagma 'schreibe ob August sein Sohn auch all Soldat werden muß' realisiert als Aufforderung einen direktiven Sprechakt. Beide Sprechakte erfüllen distanzsprachliche Funktionen, da sie auf eine Beantwortung ausgerichtet sind. Über das Syntagma mit Konjunktiv II 'Ich Tätte den weg ganß gewiß finden Nach Amerika' werden beide Komplemente der Polarität 'Amerika' vs. 'Deutschland' in Bezug auf die räumliche Trennung der Kommunikationsteilnehmer gleichermaßen thematisiert.

Johann Wilkens 06.02.1884:
... Wen ich in Deu
schland geblieben wer so hatte ich mich
auch vieleicht kümmerlich durch helfen müß[en]
wie viel ander sich auch durch schlagen
Thun ...

Ihnke Kleihauer 20.12.1857:
... ich habe keinen
großen Lust in Deutschland zu sein ...

Ihnke Kleihauer 05.05.1859:
... eienst
habe ich Euch noch zu fragen, weil ich gehört habe das Sie
in Deutschland wieder anfangen zu Kriegen? wen das der
fahl sein sollte, dan wehr es vieleicht doch nicht gut das
ich kommen täte? und zweitens wenn ich mich alles recht
nachdenke, wie es dort ist, das man das ganze Jahr
Arbeitet und dan noch die hälfte was man verdient,
an die Oberrichkeit bezahlen muß, u drittens wen einer
erst länger in Amerika ist, der gefelt auch die Arbeit
nicht, überhaubt die Lan[d]bau ist viel beschwerliger
...
... und wenn ich auch zu Euch zurückreise, und es
täte mir gahr nicht gefallen, was ich mir schon halber
denken kann, und mußte wieder nach Amerika Reisen,
da konte ich mein Geld verreisen was ich sauer ve[r]
dient habe, und wahr verflichtet wieder von neuen
anzufangen ...

Das Syntagma 'eienst habe ich Euch noch zu fragen, weil ich gehört habe das Sie in Deutschland wieder anfangen zu Kriegen?' enthält den modalen Infinitiv 'zu fragen haben' als Konkurrenzform des Modalverbs 'müssen'. Die morphosyntaktisch komplexere Form ist wie der explorative Sprechakt ein distanzsprachliches Element. Distanzsprachlichkeit kommt hier zudem durch das Syntagma 'weil ich gehört habe das ...' zum Tragen, das eine Paraphrase einleitet. Das Syntagma 'dan wehr es vieleicht doch nicht gut das ich kommen täte?' realisiert ebenfalls einen explorativen Sprechakt und enthält außerdem den Konjunktiv II als distanzsprachliches Element. Die Zahladverbien 'eienst', 'zweitens', 'drittens' dienen als Textgliederungssignale der Kohäsion und sind distanzsprachliche Elemente.

Ihnke Kleihauer 06.09.1859:
... Ihr glaubt das ich mich
nicht zu fürchten habe vor den Krieg, was auch
schon sehr gut ist, u im Übrigen es mir vieleicht
wohl nicht so schlecht gefält, wenn es durch die
Theilung der Gemeindeweide besser geworden ist,
hoffe ich das es mir nicht so gans schlecht
gefallen wird, wen es aber noch so ist als es früher
wahr, dan gefelt es mir hier doch besser, wenn Ihr
aber jeden Tag Weißbrod u Braten auf dem Tiesch,
u ein Faß Bier ins Haus habt, dan wird es mier
dort auch wohl gut gefallen ...

Ihnke Kleihauer 27.11.1860:
... und wenn
ich mich recht nachdenke, wie es sich
da befindet 1. Als Essen u Trinken,
glauben ich das einer die Speise dort
nicht vertragen kann, u 2 ist die
Arbeit viel schwerer, u doch nicht viel
briengt, u 3 muß man soviel an
die O[br]ichkeit bezahlen, das wenn
das Jahr [h]errum ist, noch nich[ts]
von seine schwere Arbeit über hat,
und zuweilen noch nicht soviel hat
das man bezahlen kann was man
schuldig ist, u dorum gefelt es mier
nicht, u weil Ihr noch vier Kinder
dort habt, sind Ihr doch wohl nicht
verlange das ich zu Euch zurück
kommen soll, weil ich doch keine
lust hab da zu bleiben, u wa[s]
nüßt es das ic[h] hien und hehrr Reise
u verreise mein Geld, so gerne als ich
Euch mit unter schü stütze täte, aber
ich kann es da nic[ht], u ich hoffe das
Ihr mier erlau[b]niß geben hier zu
bleiben, weil ich einsehe das ich mein
Leben hier viel besser machen kann als
da, und ich möchte gerne einen reinen aus=
schluß habe, weil ich einsehe das ich soviel
Geld habe für mich selbst anzufangen.

Ihnke Kleihauer 21.09.1861:
... es ist grade al[s]
wen wier damit nicht zugehören, weil wier garnicht ein=
geladen sind auf die Hochzeiten ...

Das Syntagma 'Ihr glaubt das ich mich nicht zu fürchten habe vor den Krieg' ist als Paraphrase von Äußerungen der Angesprochenen ein Mittel der Kohäsion, mit dem der Sprecher verschiedene Briefe morphosyntaktisch in Beziehung setzt. Ebenfalls Mittel der Kohäsion und somit distanzsprachliche Elemente sind die zur Textgliederung verwendeten Ziffern, die für Zahladverbien stehen. In dieser mithilfe formaler Mittel hergestellten Distanzsprachlichkeit scheint die Verwendung des Konjunktivs II zur Kennzeichnung distanzsprachlichen Handelns überflüssig geworden zu sein, der in den Beispielen nur einmal begegnet. Mithilfe der modalen Konjunktion 'als wenn'/"als wen" im Syntagma 'es ist grade als wen wier damit nicht zugehören' thematisiert der Sprecher das Hypothetische in seiner persönlichen Wahrnehmung. Hierdurch thematisiert er die Äußerung selbst und den durch sie vermittelten Wahrheitsanspruch. Indem er diesen infrage stellt, handelt er distanzsprachlich.

Die Thematisierung Deutschlands vollzieht sich überwiegend durch distanzsprachliche Elemente:

Als weitere distanzsprachliche Elemente begegnen Textgliederungssignale zur Herstellung von Kohäsion sowie Paraphrasen zur Herstellung von Kohäsion zwischen mehreren Briefen.

3.3.3 Muttersprache vs. Vaterland [nach oben]

Der Begriff Muttersprache steht für das von der Natur gegebene Phänomen Sprache (vgl. 2.1.2). Die subjektive Sprachverwendung wird eine objektive durch die Verschriftlichung. Aus der Schrift ist die Standardsprache hervorgegangen. In dem von politischen Vereinheitlichungstendenzen geprägten Deutschland des 19. Jh. sollte die Standardsprache jedoch als Muttersprache aufgefasst werden:

"In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Sprachwissenschaft die Durchsetzung der Standardsprache gefördert und das Bewußtsein ihrer Überdachungsfunktion für alle Varietäten der deutschen Sprache etabliert ... Schulunterricht und politische Ideologiebildung hatten die Muttersprachenideologie verbreitet, ... die Bedeutung der Muttersprache [war] für jeden Bewohner deutlich geworden ..." (AHLZWEIG 1994, 169)

Indem sich der Sprecher mit einer Sprache identifiziert, die von der Allgemeinheit als gültig anerkannt wird, definiert er seine Individualität neu, die als Teil einer Sprechergemeinschaft in der Kollektivität aufgeht. Dieses durch das Kollektiv geprägte Selbstverständnis kann durchaus auf das persönliche Selbstbild des Individuums rückwirken:

"In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt die Verwendung des Wortes [Muttersprache] in eine inflationäre Phase ... Zu nennen ist der Muttersprachenunterricht (vor allem an den Volksschulen), der die doppelte Funktion hat, Kulturtechniken zu vermitteln und national gesinnte Untertanen zu produzieren. Noch typischer aber ist die Vielzahl von Broschüren, Vorträgen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die vor allem nach 1871 das bürgerliche Sprachbewußtsein dokumentieren. In diesen Schriften werden alle traditionell mit dem Wort Muttersprache verbundenen Themen abgehandelt, sie beschäftigen sich mit dem Wesen der deutschen Sprache, der Überlegenheit der Muttersprache im Vergleich mit anderen Sprachen, der Bedeutung der Geschichte der Muttersprache für die Nationwerdung der Deutschen etc. Während aber im 18. Jahrhundert und während der Befreiungskriege der beliebte Sprachvergleich Deutsch-Französisch Ersatzfunktion für fehlende politische Auseinandersetzungen hatte, werden jetzt der Muttersprache Eigenschaften zugeschrieben, die mit Hilfe der Vorstellung von der inneren Form der Muttersprache zu Aussagen über das Wesen des deutschen Menschen werden ..." (AHLZWEIG 1994, 169 - 170)

Die Vorstellung, dass sich die Eigenschaften der deutschen Sprache in den Eigenschaften ihrer Sprecher niederschlagen, nimmt rassistische Züge an, wenn die Überlegenheit der standardisierten Muttersprache als deutscher Verkehrssprache nicht nur in Bezug auf die Dialekte angenommen wird, sondern auch in Bezug auf andere Muttersprachen.

"Der Weg vom Kultur- bzw. Sprachnationalismus zum rassistischen Nationalismus ist bereits in der Napoleonischen Zeit in ersten Ansätzen zu erkennen. Um 1800 wird er vorbereitet durch ethnozentrisches Sendungsbewußtsein, Germanophilie und Fremdenfeindlichkeit ... [C]hristliche Vorstellungen wirkten beim deutschen Nationalismus von Anfang an nach in einem Sendungsbewußtsein und säkularisierten Auserwähltheitsglauben ..., beispielsweise wenn Schiller ... die Deutschen als 'Menschheitsvolk' und 'Kern der Menschheit' bezeichnet und behauptet: 'Unsere Sprache wird die Welt beherrschen ... Während der Brite nach Schätzen und der Franke nach Glanz lüstern späht, ist dem Deutschen das höchste bestimmt.'" (v. POLENZ 1998, 64 - 65)

Wenn der Auswanderer nun nach Amerika geht, nimmt er seine 'Muttersprache' mit, das 'Vaterland' bleibt zurück, d. h. das Kollektiv, das sich seiner spezifischen Sprachkultur bewusst ist und nach ihren Prinzipien lebt. Der Konflikt des Individuums entsteht dann, wenn sich die Umgangsformen aus der Alten Welt in der Neuen Welt als deplatziert erweisen.

[weiter]